Deutscher Titel: Ein Fremder am Strand / im Frühlingswind

Originaltitel: Umibe / Harukaze no Etranger

Genre: Boys‘ Love, Drama, Romance, Slice of Life, Comedy

Zeichnungen / Story: Kanna Kii

Bände: 4 / fortlaufend

Verlag: TOKYOPOP

Erscheinungsjahr des 1. Bandes: 2016

Erotische Szenen: ❤

Weitere Infos zur Reihe findet ihr bei TOKYOPOP hier.

23:49 Uhr am 30. April, aber ich habe es trotzdem mal wieder rechtzeitig geschafft! Mit dem Mai, der bereits an die Tür klopft, steht ein neuer Beitrag an und diesmal soll es, wie im März und nach einigen eher allgemeineren Ausflügen in die BL-Welt versprochen, auch wieder um einen ‚richtigen‘ Boys‘ Love-Manga gehen. Meine Wahl ist auf Ein Fremder am Strand bzw. Ein Fremder im Frühlingswind gefallen, weil mir an der Reihe die Art gefällt, auf welche die Mangaka einfache, aber tiefe Lebensweisheiten mit einer herzlichen, wahnsinnig süßen und teilweise zum Schreien komischen Geschichte und einem niedlichen Artwork verbindet und dabei gleichzeitig das wohl verschrobenste und gradlinigste Pärchen erschafft, das man im BL-Genre finden kann. Ich habe die vier Bände schon einige Jahre in meinem Regal stehen und habe sie für diesen Beitrag erneut gelesen. Dabei habe ich mich wieder daran erinnert, wie sehr ich eigentlich diese Mangaka liebe und die Geschichte mit ihren beiden Hauptcharakteren vergöttere.

Ich bin über die wunderschönen und mit viel Liebe zum Detail gestalteten Cover auf die Reihe aufmerksam geworden, die eigentlich bereits genau das vermitteln, was man inhaltlich von dem Manga erwarten kann: ein fluffiges und niedliches Artwork und eine Geschichte voller Leichtigkeit, Sommergefühl, Situationskomik und Melancholie. Was außerdem ab und an erfrischend ist: Die Cover sehen nicht nach BL-Manga aus. Wenn ich durch mein Regal streife, bin ich nämlich oft sehr froh, dass Bücher im Allgemeinen und BL-Manga im Besonderen die angenehme Eigenschaft haben, dass sie nur mit dem Buchrücken aus dem Regal ragen und ihre häufig ziemlich anzüglichen Cover elegant hinter ihrem Nachbarn verbergen. Das alleine ermöglicht es mir, meine Sammlung auch bei Besuch im Schrank stehen zu lassen, was sehr praktisch ist und ganz anders wäre, wenn Bücherregale erfunden worden wären, die den Fronteinband der Werke zeigen *hust*… Immerhin habe ich in Hinblick auf die Covergestaltung mittlerweile meine Scheu abgelegt, wenn es um den Kauf einer Reihe im Buchladen geht. Ich bin dankbar dafür, dass ich seit einigen Monaten einen Mangaladen in meiner Nähe habe, in dem ich ruhigen Gewissens auch die ‚härteren‘ Titel über die Theke reichen kann. Ich denke mir dann immer: Die haben hier sicherlich schon so ziemlich alles gesehen und machen sich da keine Gedanken mehr drüber…

Aber zurück zum Manga, um den es heute gehen soll. Zunächst war ich aufgrund der Titel etwas verwirrt, aber bereits über die Inhaltsangaben wird ersichtlich, dass Ein Fremder am Strand eigentlich den ersten Band der Reihe bildet, die ab Band zwei unter dem Namen Ein Fremder im Frühlingswind fortgesetzt wird. Lasst euch also nicht von der fetten 1 irritierend, die auf dem ersten Band von Ein Fremder im Frühlingswind prangt. Ich kann euch auch nur ans Herz legen, diesen Hinweis nicht zu ignorieren, denn ansonsten verpasst ihr wichtige Details über Mios und Shus jeweiligen familiären Hintergrund und ihr Kennenlernen. Ich muss an dieser Stelle zugeben, dass die Rückseite von Ein Fremder an Strand sich ein wenig liest wie ein kitschiger und überdramatisierter Rosamunde Pilcher-Roman, aber wie bei vielen Inhaltsangaben auf Mangabänden muss ich auch hier wieder feststellen, dass die sprachliche Form dieser nicht unbedingt immer hundertprozentig der tatsächlichen Geschichte gerecht wird. Wobei, ich kenne Inhaltsangaben für Manga-Reihen, die noch wesentlich experimenteller sind. Manchmal (und das ist jetzt eher allgemein gemeint) habe ich keine Ahnung, welche irren Texter von den Verlagen auf die Zusammenfassung des Inhalts losgelassen werden, aber dieses Experiment scheint nicht immer zu gelingen – gelinde ausgedrückt. Ich hoffe aber, dass ich euch mit meinem Beitrag davon überzeugen kann, dass die Reihe von Kanna Kii mehr zu bieten hat als die schnulzige Inhaltsangabe suggeriert, nämlich viel Herzlichkeit und einen mitreißenden Humor.

Inhalt

Shun ist bereits seit seiner Kindheit homosexuell. Die gesellschaftliche Ablehnung, auf die er seitdem tagtäglich stößt, und ein gescheiterter Eheversuch haben zum Bruch mit Shuns Eltern und zu einem tiefgreifenden Selbsthass geführt, der ihn auf eine kleine Insel im Süden Japans getrieben hat, wo er bei Bekannten ein Zimmer in einer Pension anmietet und sich mit mehr oder weniger großem Erfolg als Romanautor versucht. Dort lernt Shun den Schüler Mio kennen, der ebenfalls kein all zu unbeschwertes Leben führt. Nach dem Tod seiner Eltern lebt Mio in einer Pflegefamilie, in der er sich jedoch überhaupt nicht wohl und verstanden fühlt. Tag für Tag sitzt er daher nach der Schule auf einer Bank am Meer und starrt bis zum Einbruch der Dunkelheit gedankenverloren auf das selbige hinaus. Shun, der sich von Mios Traurigkeit berührt fühlt und Gefallen an dem hübschen Jungen findet, ergreift die Initiative und tastet sich langsam an diesen heran. Was wie ein perverser Annäherungsversuch klingt, ist der Beginn einer sehr zaghaften Liebe. Doch Mio, der noch minderjährig ist, muss für einen Schulwechsel die Insel verlassen und lässt einen wehmütigen Shun mit dem Versprechen zurück, sich bei diesem zu melden. Lange Zeit hört Shun nichts von Mio, doch an einem heißen Sommertag steht dieser, jetzt volljährig, plötzlich im Hoftor der Pension und gesteht Shun nicht nur, dass er sein neuer Mitbewohner sein wird, sondern auch seine Liebe. Auf Mios Aufforderung „Also verlieb dich auch in mich!“ folgen turbulente Zeiten, denn aus dem traurigen Jungen von damals ist ein lebensfroher und energischer junger Mann geworden, der an den Grundpfeilern von Shuns Selbstbild zu rütteln beginnt.

Shun braucht lange, um Mios Liebe als aufrichtig und ehrlich anzuerkennen und diese vollkommen zuzulassen, den das Bild, das er von sich selbst hat, ist ein sehr negatives. Nachdem dieses erste Hindernis überwunden scheint, taucht ein weiteres Problem in Form einer jungen Frau auf. Die aufgelöste Verlobung mit seiner Jugendfreundin Sakurako führte damals zum Bruch mit seinen Eltern und eben diese ist es nun, die Shun zur Rückkehr in sein Elternhaus bewegen möchte, um das zerstörte Familienverhältnis wieder herzustellen. Letztendlich ist es jedoch Mio, der seinen Freund zu dieser Reise bewegen kann, und so machen sich die beiden Männer auf in den hohen Norden Japans und nach Hokkaidō, um für ihre Beziehung und die Versöhnung mit Shuns Familie zu kämpfen. Die Situation, die Mio und Shun auf Hokkaidō vorfinden, ist jedoch etwas anders als erwartet. Abgesehen von Shuns Vater, der seinem schwulen Sohn nach wie vor eher abweisend gegenübersteht, erwartet die beiden jungen Männer ein herzlicher Empfang und eine weitere Überraschung: Shuns Eltern haben nach seinem Fortgang einen kleinen Jungen adoptiert, der es kaum erwarten kann, seinen großen Bruder kennen zu lernen. Fumis extrovertierter Charakter und seine scheinbar unerschöpfliche Energie (wie Kinder nun mal so sind *zwinker*) spülen die erste Anspannung davon und nach einigen zaghaften Stunden steht der Entschluss fest: Mio und Shun werden auf Hokkaidō bleiben und sich den alten Laden der Familie als Wohnhaus herrichten. Fortan geht es für das ungleiche Paar darum, den neuen Alltag zu bewältigen (und den lebhaften Fumi zu bändigen, was zu einigen sehr amüsanten Verwicklungen führt). Während Shun seine Karriere als Schriftsteller vorantreibt und mit Deadlines und Abgabeterminen kämpft, plagen Mio Sorgen ganz anderer Art. Warum empfindet Shun beim Sex immer Schmerzen? Was kann er nur tun, damit die Stunden zu zweit auch für den Freund lustvoll werden?

Artwork / Gestaltung

Kennt man sich im BL-Genre etwas aus, könnte man dazu neigen, die Zeichnungen des Manga als Anti-BL-Illustrationen zu bezeichnen, denn das Artwork sticht aufgrund seiner Niedlichkeit ganz klar aus der Masse der BL-Werke heraus. Ich würde diesen Zeichenstil primär mit solchen vergleichen, die wir in der Regel in den klassischen Romance-Manga vorfinden und die sich mit ihren kindlichen Figuren an einer eher jüngeres weibliches Publikum richten. Was am meisten ins Auge fällt, ist die starke Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Alter, dem Geschlecht und der Optik der Figuren. Shun ist 29 Jahre alt, sieht aber aus wie ein zwölfjähriger Highschool-Schüler. Er entspricht optisch dem konventionellen weiblichen Mangacharakter, der durch eine androgyne Figur (im Gegensatz zu weiblichen Figuren aus Hentai- oder Etchi-Manga) gekennzeichnet ist und dessen Gesichtszüge am sogenannten Kindchenschema orientiert sind. Das Selbe gilt für Mio, wenngleich dieser ein paar Jahre jünger ist als Shun. Das ist definitiv nichts für Leser/-innen, die auf knackige Kerle und klassische Bishōnen stehen. Das Artwork passt aber hervorragend zum herzerwärmenden Grundton der Geschichte, die der Manga erzählt, und es hätte vermutlich eher seltsamer gewirkt, wenn uns die Mangaka maskuline Figuren wie in 10 Dance präsentieren würde. Es ist hier interessant zu beobachten, wie unsere Vorstellung von männlichen Körpern mit der Handlung und Atmosphäre von Büchern korrespondiert. Sicherlich wäre die Geschichte auch mit visuell erwachseneren Figuren erzählbar gewesen, aber der ganze Fluff erweckt auf der Seite des Rezipienten eben eher Sympathien und entsexualisiert die visuelle Darstellung, obwohl die Handlung durchaus explizit sexuelle Elemente enthält. Die Unschuld, die Shun und Mio ausstrahlen, wird von diesen kindlichen Körpern authentischer transportiert, als dies z.B. bei einem Ryūichi Asami der Fall wäre.

Ich bin auch in der Realität immer wieder fasziniert davon, auf welche Art und Weise wir die sexuelle Handlungen mit dem äußeren Erscheinungsbild eines Menschen verknüpfen. Dem Satz „Das hätte ich ihm / ihr nicht zugetraut“ begegnet man öfter. Gemeint ist damit, dass uns der augenscheinliche Widerspruch zwischen der äußeren Erscheinung und dem Verhalten des Gegenüber verblüfft. Wir urteilen und richten Erwartungen an die Menschen, denen wir begegnen, und davon ist auch deren Sexualität nicht ausgenommen. Warum sind wir der Meinung, zu Ein Fremder im Frühlingswind passt ein kindliches Artwork besser als erwachsen wirkende Figuren? Natürlich ist das auf der einen Seite einfach der Zeichenstil der Mangaka, aber auf der anderen Seite zeigt sich hier, dass sexuelle Handlungen für den Betrachter weniger ‚anstößig‘ wirken, wenn sie von eher kindlichen, androgynen oder gar feminin wirkenden und damit enterotisierten Figuren ausgeübt werden. Durch ihre visuelle Gestaltung (feine, beinahe mädchenhafte Gesichtszüge, androgyne Körper und ein geschlechtsneutraler Kleidungsstil) werden Shun und Mio in eine Richtung gerückt, die ob ihrer Beziehung optisch entlastend wirkt. Wir neigen weniger dazu, die uns sozial anerzogene Vorstellung von Geschlechterrollen auf Figuren zu projizieren, die kindlich wirken. Kinder bilden, alleine schon aufgrund moralischer Aspekte, eine neutrale Zone, deren Körper wir nicht unter sexuellen Gesichtspunkten betrachten. Obwohl dies eigentlich dazu führen müsste, dass wir Ein Fremder im Frühlingswind als pädophiles Werk wahrnehmen, kehrt sich der Effekt bei Lesern, die mit dem Literaturgenre Manga vertraut sind, ins Gegenteil um: Die Figuren wirken niedlicher, wecken in unserem Gehirn, das einfach auf süße Dinge steht (meins zumindest), Sympathien und werden, besonders in Hinblick auf ihre Sexualität, unvoreingenommener und weniger kritisch betrachtet. Die ganze Niedlichkeit und die Emotionen, die uns überrollen, überschwemmen quasi unsere Wertungsmechanismen und lassen das Geschlecht und damit die Bedeutung der sexuellen Handlungen in den Hintergrund rücken.

Nachdem wir das jetzt so kritisch festgestellt haben, kann ich aber trotzdem guten Gewissens sagen, dass ich das Artwork der Reihe liebe und Kanna Kiis Zeichenstil zu meinen liebsten auf dem Mangamarkt gehört. Besonders beeindruckt, dass jedes einzelne Panel mit so viel Liebe zum Detail und Komplexität gestaltet ist. Bereits die Hintergründe und Requisiten stecken so voller Einzelheiten, dass man sich in ihrer Betrachtung verlieren kann. Die atmosphärische Dichte, die zwischen ansteckender Heiterkeit und verträumter Melancholie hin und her driftet, verdankt die Reihe nicht zuletzt der bildgewaltigen Vorstellungswelt ihrer Mangaka. Jeder Schauplatz einer Szene wird bis hin zu kleinsten Details par excellence in wunderschönen Zeichnungen eingefangen. Mios Unterhaltung mit Sakurako unter einem strahlend kalten Sternenhimmel, eingehüllt in vom Wind aufgepeitschte Wellen, und ihr anschließendes Gespräch unter tropischen nachtschwarzen Bäumen fangen neben der Schönheit der Natur in Japans Süden auch hervorragend die Stimmung der beiden Figuren ein. Brodelnde Emotionen und ein klärendes Gespräch, tief wie der Wald um Mio und Sakurako herum, finden auf diese Art ihren Weg direkt in die unbewusste Wahrnehmung des Lesers. Ich für meinen Teil habe mich sofort in die schnuckelige Pension und das Arbeitszimmer verliebt, dass Shun auf der kleinen Insel bewohnt. Neben dem ganzen Chaos, das dort herrscht, erfüllt das Haus so ziemlich alle Klischeevorstellungen, die man von einem typisch japanischen Inselhaus haben kann. Aber, wie bereits mehr als einmal gesagt – ich liebe diese vielen kleinen Spielereien und Details in den Zeichnungen, die alleine das Betrachten der Bilder zu einer reinen Freude machen und in Bezug auf das Artwork bei keinem Mangaleser einen Wunsch offen lassen sollten. Während die meisten Mangaka auf solch ausschweifende Hintergrundgestaltungen verzichten, schafft es Kanna Kii nicht nur, diese ohne die kleinste Offenbarung von Schwäche konsequent durchzuhalten, sondern bewahrt ihre Zeichnungen trotz des Detailreichtums davor, die Figuren zu verspeisen, die klar im Fokus stehen. Dazu trägt vor allem die weise Wahl der Panele bei, die die kleinen Kunstwerke mittels übersichtlicher Rahmung und Strukturierung voneinander separieren und ordnen. So erzählt bereits jedes Bild für sich eine eigene Geschichte. Einzig bei den Sprechblasen hätte ich mir eine etwas deutlichere Zuordnung gewünscht. Die Blasen sind zwar jeweils mit den kleinen Spitzen versehen, die ihren Ursprung kennzeichnen sollen, aber des Öfteren fällt es schwer, ihre Richtung zu deuten, wenn Mio und Shun z.B. sehr nahe beieinander stehen oder einer von beiden nicht im Bild ist. Aber das ist Kritik, die sicherlich weniger die Mangaka und das Artwork an sich betrifft.

Dass Kanna Kii sich neben den Hintergrundzeichnungen auch auf die Umsetzung eines hervorragenden Charakterdesigns und mitreißenden Humor versteht, wird mit Fortgang der Reihe immer deutlicher. Shun und Mio sind bereits optisch brillant umgesetzt. Wie bereits in die Hintergründe hat die Mangaka auch bei ihren Figuren viel Liebe in kleine Details investiert. Besonders gefällt mir die Kleidungsstil, den die Mangaka für Mio und Shun gewählt hat. Wenngleich die Figuren an sich optisch sehr kindlich umgesetzt sind, gilt dies nicht für ihre Bekleidung, die bereits die Individualität der beiden Protagonisten unterstreicht. Shun trägt zwar gerne T-Shirts und Sweatjacken, aber mit seinem verlotterten Hemd, der groben Strickjacke und der Brille, die er manchmal trägt, wenn er schreibt, wirkt er genau wie der etwas weltentrückte und verschrobene Schriftsteller, der er ist. Hinzu kommen noch seine wüst abstehenden Haare und seine Lebenspessimismus, der oft ungewollt komisch wirkt, wenn er mit Mios unbeschwerter Heiterkeit und seinem optimistischen Pragmatismus kontrastiert wird. Mio ist eine unkomplizierte und lebenshungrige Figur, die den unwichtigen Dingen wenig Bedeutung beimisst. Auch diese Einstellung spiegelt sich bereits in seinem Kleidungsstil. Unkompliziert und unbekümmert, wie er ist, trägt er seine Haar mal lang, mal kurz, mal als Zopf, mal offen. Aus Mode macht er sich noch weniger als Shun. Wenn es die Situation erfordert, trägt er sogar die abgelegte Kleidung von Shuns Vater und findet selbst daran noch Gefallen. Bereits die ganzen kleinen optischen Details haben mir die Figuren ein wenig ans Herz wachsen lassen. Hinzu kommt noch, dass sie zeichnerisch wirklich schön umgesetzt sind. Die weiche und mit zarter Feder umgesetzte Strichführung lässt die Figuren immer ein wenig zerbrechlich wirken, was sehr schön den verträumten und manchmal auch schmerzlichen Unterton der Geschichte einfängt. Visuell sind die Protagonisten stark an den klassischen Manga-‚Prototyp‘ angelehnt, was bedeutet: große Augen, kindliche Gesichtszüge und zarte Körper, die eine Unterscheidung von weiblichen und männlichen Charakteren nur aufgrund der langen Wimpern, Haare und der Kleidung ermöglichen. Hier hätte man durchaus etwas mehr differenzieren können. Zum Glück nehmen die geschlechtsseparierenden Merkmale zu, je älter die Figuren werden. Shuns Eltern sind z.B. ganz hervorragend und altersentsprechend in Szene gesetzt, ebenso der kleine Fumi. In den Zeichnungen an sich wirken die vielen feinen Striche und Schattierungen wie aus einem alten und etwas groben Kupferstich entliehen. Diese Technik gewährt die Umsetzung eines durchaus komplexeren Skizzenstils, ohne dabei an Leichtigkeit einzubüßen. Neben den wenigen Schwarz-Weiß-Kontrasten ist es vor allem der Einsatz von Rasterfolie, der in den Zeichnungen Struktur und Tiefe schafft. Ich mag die reduzierte Kolorierung der Zeichnungen, die die Mimik der Figuren und ihre ausdrucksstarken Augen deutlich hervortreten lässt und, vor allem in Hinblick auf die detaillierten Hintergründe, eine harmonische Gesamtkomposition der Bilder erhält. Und auch, wenn sich das jetzt seltsam anhören mag: Ich bin ein riesiger Fan von der Art und Weise, wie in Ein Fremder im Frühlingswind mit der Farbe Schwarz gearbeitet wird. In so vielen Manga wirken schwarze Haare oder Kleidungsstücke wie eine harte undurchdringliche Fläche an den Figuren, die jede Luftigkeit des Artworks zunichte macht und bei der man von Struktur nur noch träumen kann. Obwohl auch Mio und Sakurako schwarzes Haar haben, haben die Mangaka und die Druckerei es jedoch auf phänomenale Art geschafft, selbst dabei noch die feinen Linien des Zeichenstifts und damit den Eindruck zu erhalten, dass man es hier mit Haaren und einer Frisur zu tun hat. Ein kleines Detail, von dem ich aber restlos begeistert bin.

Zum Abschluss dieses Abschnitts will ich noch ein paar Worte zum Humor der Reihe verlieren. Ich habe lange überlegt, ob ich den Titel in der Reihenbeschreibung als Comedy kennzeichnen soll und mich letztendlich dafür entschieden, weil Ein Fremder im Frühlingswind neben aller Dramatik vor allem eines ist: unfassbar witzig! Dabei ist die Reihe eigentlich kein klassischer Manga des Comedy-Genres. Es verhält sich mit den Figuren nämlich ein wenig wie im realen Leben: Eigentlich sollen sie nicht bewusst witzig sein, aber es prallen in der Geschichte so viele gegensätzliche Charaktere aufeinander, zu denen auch Shun und Mio gehören, dass sich eine einfach wundervolle Situationskomik ergibt. Ich hoffe, ihr wisst, was ich damit meine. Sicherlich kennt ihr diese Alltagssituationen, von denen man Freunden oder der Familie berichtet, die sich als rein erzählt Geschichte aber überhaupt nicht mehr so witzig anhören, wie sie eigentlich gewesen sind. Um zu verstehen, was an besagter Begegnung eigentlich amüsant war, muss man dabei gewesen sein, denn diese Art von Humor lebt vor allem von Mimik und Gestik der Beteiligten (Figuren). Besonders Shuns stoische und leidende Gesichtsausdrücke, die er immer dann zur Schau stellt, wenn ihm eine Situation mit Mio und Fumi oder seiner Familie zu lebhaft wird, sind zeichnerisch göttlich umgesetzt und haben mir einige herzhafte Lachattacken beschert. Man kann einfach nicht anders, als in diesen Szenen mit Shun zu sympathisieren, wenn Fumi mal wieder energisch die traute Zweisamkeit des frisch verliebten Pärchens unterbricht oder augenscheinlich wird, wie ähnlich er und Mio sich in Hinblick auf ihre unerschöpfliche Energie eigentlich sind. Das ein oder andere Mal wünscht Shun sich heimlich sicherlich eine Pause von seinem Leben, das ihm manchmal etwas zu aufregend geworden zu sein scheint.

Erotik

Diesen Absatz leite ich mit einem lauten Halleluja ein, denn Ein Fremder im Frühlingswind ist in Hinblick auf die Erotik frei von so ziemlich allem, was der BL-erfahrene Leser bei gehäuftem Auftreten nicht mehr hundertprozentig unterhaltsam findet: Kitsch. Klischees. Starre Geschlechterrollen. Viel zu große und viel zu männliche Seme. Bis zum Brechreiz verniedlichte und unbeholfene Uke. Stattdessen bekommen wir eine gesunde, stabile, herzerwärmende, gleichberechtigte und natürlich auch ein wenig romantische Liebesbeziehung zwischen den beiden authentischsten und liebenswertesten Figuren des BL-Genres zu Gesicht, die sich so weit wie nur möglichen von allen BL-Schemata und Schablonen entfernt. Zwischen Shun und Mio herrscht keineswegs immer nur einträchtige und rosa glitzernde Harmonie, aber all die Probleme, die die beiden Figuren gemeinsam meistern, nicht zuletzt auch in Hinblick auf ihre Sexualität, zeigen doch eines ganz deutlich: Diese Beziehung fußt auf dem Fundament einer ehrlich, aufrichtigen und langsam gewachsenen Liebe und vielleicht sind es die mit Bedachte getroffenen und wohl überlegten Entscheidungen der Figuren, die zu keinem Moment der Lektüre Zweifel daran aufkommen lassen, dass sich hier zwei Herzen für den Rest ihres Lebens miteinander verbunden haben. Denn die Mangaka gewährt ihren Charakteren, obwohl die erste Begegnung von Shun und Mio in ein einziges kurzes Kapitel gequetscht wurde, für einen BL-Manga sehr viel Raum, in dem sich die Gefühle der beiden Protagonisten nicht nur herauskristallisieren, sondern auch entwickeln und wachsen können. Ein Fremder im Frühlingswind ist die passende Reihe für euch, wenn ihr euch nach Authentizität, einer sehr unschuldigen und reinen Liebe und erotischen Szenen sehnt, die nicht aus einem Porno zu stammen scheinen, sondern wirklich aus dem Leben gegriffen wirken.

Mir gefällt, wie die intimen Begegnungen und der Sex zwischen Shun und Mio in den Manga integriert werden und auch hier eine langsame Entwicklung stattfindet, die der Leser von Beginn der Reihe an begleiten darf. Ich vergöttere z.B. Scarlet Beriko, aber wenn wir einen Vergleich ziehen wollen, so ist bei dieser Mangaka, sobald die Figuren zueinander gefunden haben (na ja, und eigentlich auch währenddessen), alles purer Schweiß und brennende Leidenschaft. Das ist zwar stets reizvoll anzusehen und verfehlt – zumindest bei mir – seine Wirkung nicht, deckt sich aber eher weniger mit der Realität. Ein Fremder im Frühlingwind setzt die Sexszenen hingegen nicht als erotische Gimmicks ein, sondern vielmehr als Spiegel des Prozesses, in dessen Rahmen Shun die Akzeptanz seiner eigenen Sexualität zu erlangen sucht. Denn Shun kämpft, auch im vierten Band der Reihe noch, mit einer zentralen Problematik: Er hat Schwierigkeiten damit, sich und seine Homosexualität anzunehmen bzw. scheint sich zuweilen sogar vor sich selbst zu ekeln. Dieser starke Selbsthass, der aus Shuns Wunsch nach Normalität und einem geordneten Leben resultiert, während seine Umwelt stets darum bemüht zu sein scheint, ihm klar zumachen, dass er aufgrund seiner sexuellen Orientierung alles ist, nur eben nicht ‚normal‘, führt dazu, dass Shun – und das ist für einen BL-Manga mit Sicherheit eine Sensation – immer noch Jungfrau ist. Also, Jungfrau im homosexuellen Sinne. Wir verstehen uns hier, hoffe ich. Shuns sexuelle Erfahrung beschränkt sich auf einen einmaligen und ziemlich missglückten Versuch mit einer Frau und endete mit diesem wohl genau so abrupt. Aber Shun ist nicht nur unerfahren, er hat auch Probleme damit, Sexualität zwischen sich und einem anderen Mann zuzulassen, denn Sex mit einem Mann bedeutet für Shun, die eigene Homosexualität anzunehmen. Wie tief seine psychischen Narben tatsächlich reichen, offenbart sich immer dann, wenn Shun mit Situationen konfrontiert wird, die ihn an die vermeintlichen ‚Untaten‘ seiner Jugend erinnern. Der Schmerz, der daraus entspringt, in das von seinen Eltern und der Gesellschaft gewünschte Leben passen zu wollen und gleichzeitig über das Wissen zu verfügen, dies nicht zu können, äußert sich bei Shun in physischen Symptomen: Ihm wird schlecht oder er wird kurzerhand ohnmächtig. Mit jedem Akt körperlicher Nähe, den Shun durch Mio zulässt, nähert er sich daher in winzigen Schritten einem kleinen Stück Selbstakzeptanz an. Mio, der seiner Sexualität sehr offen und selbstbewusst begegnet, erweist sich in dieser Hinsicht zwar als sehr fordernder Partner, aber es ist genau dieses Maß an liebevoller Forcierung, dass Shun benötigt, um sein Liebesleben, mit dem er bereits resigniert abgeschlossen hatte, aus dem Dornröschenschlaf zu erwecken. Für Shun ist es bitter notwendig und heilend, durch Mio in dieser Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Sexualität hinein gezwungen zu werden. Und wer ob meiner Worte jetzt den Eindruck gewinnt, dass Mio der Seme ist und Shun zum Sex nötigt, der liegt falsch. Es ist nämlich ein weiterer Aspekt, der mir an diesem Manga sehr positiv ins Auge gefallen ist, dass Mio seinen Wunsch nach Intimität und Sex Shun gegenüber sehr offen artikuliert, auf der anderen Seite aber auch seine Ablehnung – nun ja, nicht akzeptiert, aber sagen wir, toleriert. Das Thema Sex führt zu einigen kleineren Streitigkeiten und Auseinandersetzungen, aber es tut dem vergewaltigungsgeplagten Herzen des BL-Leser sehr gut, dass es am Ende Shun ist, der seinem Mio den sehnlichen Wunsch nach Sexualität erfüllt. Die Szene, in der die beiden das erste Mal miteinander schlafen, hat mich aus genau diesem Grund sehr berührt. Shun ordnet in einem sehr selbstlosen Schritt die eigenen negativen Gefühle sich selbst gegenüber den Sehnsüchten seines Partners unter. Ja, Leute, wenn das keine Liebe ist, was dann. Der Sex in Ein Fremder im Frühlingswind reflektiert also auf der körperlichen Ebene Shuns psychische Entwicklung und das Maß, in dem er sich ein Stück Selbstbewusstsein und Akzeptanz in der Gesellschaft und sich selbst gegenüber erarbeitet.

Ihr habt es nun sicher schon geahnt: Entsprechend Shuns psychischer Konstitution überhäuft die Reihe den Leser nicht unbedingt mit Sexszenen, aber wenn sie denn kommen (das ist jetzt auch schon wieder doppeldeutig, hm?), sind sie umso wundervoller und entschädigen für die langen ‚Trockenzeiten‘ (doppeldeutig!). Ich finde es außerdem wahnsinnig sympathisch und authentisch, wie die sexuellen Begegnungen zwischen Shun und Mio dargestellt werden. Statt prickelnder Erotik und lauten Stöhnsalven bekommt der Leser das geboten, was man eigentlich von einem jungen und frisch verliebten Paar erwarten sollte: die alltäglichen Hürden und Problematiken der ersten sexuellen Kontakte. Mio, der zwar bereits Erfahrung mit Frauen sammeln konnte, nun aber zum ersten Mal mit einem Menschen schläft, den er wirklich aufrichtig liebt, kämpft mit frühzeitigen Ejakulationen und muss mit der harten Wahrheit zurechtkommen, dass der Partner beim Analsex nicht sofort den Gipfel der Lust erklimmt, sondern eher Schmerzen und unangenehme Empfindungen die körperliche Vereinigung begleiten. Mio gelingt es erst gegen Ende des vierten Bandes (bzw. des dritten Bandes von Ein Fremder im Frühlingswind), dieses Problem etwas in den Griff zu bekommen. Ich komme deshalb an dieser Stelle nicht darum herum zu konstatieren, dass ihr die Finger von diesem Manga lassen solltet, wenn ihr in BL-Werken heiße Typen bevorzugt, deren sexuelle Interaktion sich eher durch Quantität als Qualität auszeichnet und die sich wild, leidenschaftlich und laut stöhnend zwischen weißen Satinbettlaken wälzen. In dieser Hinsicht bilden Shun und Mio wohl auch wieder eine Art Anti-BL-Protagonisten. Die Sexszenen an sich sind aber sehr schön durchkomponiert und mir gefällt, wie in diesen Momenten die detaillierten Hintergründe verschwinden, während die Gesichter und damit die Mimik der Figuren an Raum gewinnen und die Aufmerksamkeit des Lesers vollkommen auf die Emotionen und Gefühle gelenkt wird, die sich in diesen Spiegeln. Es steht nicht die Abbildung des sexuellen Akts im Fokus, sondern das Empfinden der Protagonisten, in dem sich, trotz aller Schwierigkeiten, eine tiefe Liebe und Zärtlichkeit ausdrückt. Bei den Szenen, die die intimeren Momente zwischen Shun und Mio einleiten, bin ich das ein oder andere Mal daher etwas dahingeschmolzen, denn was die beiden Figuren da manchmal zueinander sagen – hach, romantisch *schmacht*! Wenn es einen weiteren Grund gibt, aus dem ich euch diese Manga-Reihe empfehlen kann, dann sind es die wunderschönen und voller Alltagspoesie steckenden Dialoge zwischen Shun und Mio. Wobei, das muss ich an dieser Stelle schon einmal zugeben: Manchmal hat mich Shus Gesichtsausdruck beim Sex etwas irritiert. Irgendwie… eine amüsante Mischung aus zweifelnder Skepsis, völliger Ahnungslosigkeit, stummer Duldung und leichtem Unbehagen.

Aber bei aller Ernsthaftigkeit kommt zum Glück auch beim Sex der Humor nicht zu kurz, dafür sorgt vor allem Fumis Allgegenwärtigkeit, die zu einigen pikanten Verwicklungen und ungewollten Ausflügen in Love Hotels führt. Die einzigen Klischeegewässer, die es dem Manga in Hinblick auf seine sexuelle Komponente nicht gelingt zu umschiffen, sind die Untiefen des Ich-bin-nicht-schwul-liebe-aber-einen-Mann-Motivs. Die beiden Szenen, in denen die Mangaka Mio betonen lässt, dass er auf Frauen steht, hätte man meiner Meinung nach unter den Tisch fallen lassen können, denn welchen Sinn ergibt eine solche Aussage, wenn die Handlung des Manga ganz klar das Gegenteil belegt? Ich bin zwar ein großer Fan des im BL-Genre populären Gedanken, dass eine Liebe manchmal so groß und übermächtig wird, dass sie die Grenzen des Geschlechts und der sexuellen Orientierung auflöst und überwindet, einfach deshalb, weil sie plötzlich nicht mehr an geschlechtlich behaftete Denkkategorien wie hetero- oder homosexuell gebunden ist (lest hierzu auch den Beitrag Mehr als nur Freunde: „Shonen Ai“ in BANANA FISH & Co), aber auf der anderen Seite verstehe ich nicht, weshalb der Begriff der Bisexualität in BL-Manga so vehement gemieden wird. Warum kann Mio, statt zu behaupten, er steht nur auf Frauen, nicht einfach sagen, dass er sich in beide Geschlechter verlieben kann oder dass das Geschlecht für ihn keine Rolle spielt? Das würde diesen Szenen etwas von ihrer Unglaubwürdigkeit nehmen. Wobei ich mich auch schon einige Male gefragt habe, ob hier vielleicht bei der Übertragung vom Japanischen ins Deutsche stets irgendein bedeutungsschwerer Aspekt verloren geht. Aber gut, mein Japanisch wird für die Analyse dieses Problems erst in einigen Jahren ausreichen, weshalb wir diese wilde Spekulation momentan weder bestätigen noch wiederlegen können.

Der kleine Fumi ist im Übrigen eine wichtige Schlüsselfigur und bildet den krassen Gegensatz zu seiner Gegenspielerin Kana in Der Mann meines Bruders. Während Kana den einen von zwei einander entgegengesetzten Polen von Kinderfiguren in Manga bildet, nämlich die neugierige, wissbegierige und unvoreingenommene Front, bedient Fumis Charakter den anderen Pol. Auch er ist neugierig und wissenshungrig, aber alles andere als unvoreingenommen. Fumis Gedankenwelt ist bereits stark von sozialen Geschlechterrollenbildern geprägt und er hat gelernt, die Liebe zwischen zwei Männern als „komisch“ und „falsch“ wahrzunehmen.  Dem Manga gelingt es, diese stereotypen Rollenbilder in einer ausdrucksstarken Szene als unhaltbar zu entlarven, denn auf Shuns Frage hin, warum genau eine solche Liebe denn komisch sei, weiß Fumi keine Antwort. Und das ist der springende Punkt, denn eine solche Antwort existiert auch in der Realität nicht. Wir nehmen homosexuelle Paar einzig aus dem Grund als von der Norm abweichend war, weil sie eben nicht den Bildern entsprechen, mit denen wir tagtäglich konfrontiert werden. Mir hat es sehr gefallen, wie dem Leser anhand von Fumis Figur vorgeführt wird, dass man sich in den Menschen vor sich verliebt, in seine Persönlichkeit und vielleicht sein Aussehen, aber nicht in sein Geschlecht. Und das die vermeintlich ‚falsche‘ geschlechtliche Komponente nichts an unserer Liebe zu diesem Menschen ändern kann. Was mich hingegen erschüttert hat, war Shuns Reaktion auf Fumis Ausruf „Fass mich nicht an!“. Wie wenig Selbstwertgefühl Shun eigentlich besitzt, zeigt sich an dem auf Fumis Abwendung folgenden Gedankengang „Jetzt hasst er mich. Na ja, ist ja kein Wunder.“ Die Gleichgültigkeit und offensichtliche Geringschätzung, mit der Shun über sich selbst und die Ablehnung anderer Menschen ihm gegenüber spricht, macht einem schmerzlich bewusst, wie sehr Shun unter all dem gesellschaftlichen Druck, der auf ihm lastet, gelitten hat. Shun hat gelernt, die Abweisungen hinzunehmen, aber sie haben bleibenden Schaden auf seiner Seele hinterlassen. Mittlerweile scheint er selbst zu glauben, dass seine Liebe und damit er etwas „Ekelhaftes“ sind. Diese so offensichtlichen und eigentlich völlig unnötigen Schmerzen, die Shun erleidet, haben mich traurig gestimmt und verleihen dem Manga bei genauerem Hinsehen einen sehr bitteren Unterton.

Figuren / Handlung

Was dürft ihr nun von den Figuren und der Handlung erwarten? Erst einmal: Ein Fremder im Frühlingswind ist ein sehr stiller Manga, der den Fokus nicht auf offensichtliche Dramatik legt, sondern den Leser zum genauen Hinschauen und Zuhören herausfordert. Auf den ersten Blick mag die Reihe eine manchmal mehr, manchmal weniger humorvolle und unterhaltsame Alltagsgeschichte erzählen, aber um die wirkliche Tiefe der Geschichte begreifen zu können, muss man schon ein wenig Sensibilität und ein Faible für diese Art von Erzählstil mitbringen. Wenn ihr zu den Lesern gehört, die weniger Wert auf spektakuläre Action und überraschende Wendungen legen und dafür Figuren suchen, mit denen sie sympathisieren und mitfühlen können, dann kann ich euch Ein Fremder im Frühlingswind jedoch wärmstens ans Herz legen. Denn es sind vor allem die psychologisch sehr durchdachten und hin und wieder auch etwas verschrobenen Charaktere, die Kanna Kii hier zum Strahlen bringt und die der Reihe erst Leben einhauchen. Wir begegnen neben den Hauptfiguren jeder Menge sympathischer Nebencharaktere, die ebenfalls hervorragend komponiert wurden (ich kenne kaum BL-Manga, in denen ich sämtliche Figuren, sogar die weiblichen, so sehr mochte wie in Ein Fremder im Frühlingswind), aber besonders sind es natürlich Shun und Mio, die mich, als Pärchen, aber auch separat betrachtet, tief berührt haben. Allen voran Mio ist es, der einen nach dem ersten Kapitel mit einer Entwicklung überrascht, die man so nicht erwartet hätte.

Der verschlossene und traurige Highschool-Schüler, der den Tod seiner Mutter nicht hinter sich lassen kann, kehrt als gereifter und lebensfroher junger Mann auf Shuns Insel zurück und verblüfft diesen mit seiner direkten und unverblümten Art. Direkt war Mio schon als Schüler, aber als Erwachsener hat sich diese Direktheit von ihrem bitteren Unterton befreit und Platz für einen Lebensoptimismus gemacht, der nach und nach auch Shun mitzureißen beginnt. Mio ist ein sehr unabhängiger und freier Charakter, der keine Entscheidung leichtfertig trifft. Mich hat gefreut, welche Qualität und Bedeutung es der Beziehung der beiden Figuren gibt, dass Mio sich nicht kopflos in ein Verhältnis mit Shun stürzt, sondern diesen Schritt erst nach langer und reiflicher Überlegung (während seiner Abwesenheit von der Insel) sehr bewusst geht. Man kann sich als Leser endlich einmal darauf verlassen, dass in diesem BL-Manga keine dramatische On-Off-Beziehung entsteht, sondern das einmal geknüpfte Band zwischen den beiden Hauptfiguren bestand haben und ihre Liebe nicht ständig hinterfragt werden wird. Mio erweist sich nämlich als genau der Partner, der Shuns einsames und zurückgezogenes Leben endlich in die richtigen Bahnen lenkt. Und das tut er nicht mit Zwang, sondern auf eine sehr erwachsene und für sein Alter der lebensweise Art, die mich begeistert hat. Shun, der sich aus Angst vor der Konfrontation mit seinen Eltern seit Jahren weigert, diese wiederzusehen, lenkt erst auf Mios Drängen hin ein, denn sein Freund weiß aus eigener Erfahrung ganz genau, dass die Chance auf Glück und Versöhnung endgültig vertan sein und von Reue gefolgt verfolgt werden wird, wenn Shuns Eltern irgendwann sterben sollten, ohne sich mit ihrem Sohn ausgesprochen zu haben. Gleichzeitig ist Mio jedoch auch jemand, der das Leben nicht zu ernst nimmt, wenig auf die Meinung anderer gibt und stets die Einstellung vertritt, dass „schon alles irgendwie werden wird“. Ich denke, man könnte ihn auf gut Deutsch als das betiteln, was man bei uns gerne „bodenständig und solide“ nennt. Und das Mio eben ein solcher Mensch ist, ist gut, denn nur mit Hilfe seines Pragmatismus gelingt es ihm immer wieder aufs Neue, Shuns Kopf aus den Wolken zu holen, in denen unser angehender Schriftsteller gerne steckt. Wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen, zwingt Mio Shun gerne dazu, seine bequeme Komfortzone, in die er sich über die Jahre zurückgezogen hat, zu verlassen und sich dem Leben mit seinen alltäglichen Herausforderungen zu stellen. So, und ich denke, spätestens jetzt dürfte man bemerkt haben, dass ich Mios Figure wirklich sehr gern mag *zwinker*.

Shun ist dem Leser aufgrund seiner negativen Art weniger leicht zugänglich als Mio, aber mit der Zeit habe ich für ihn gerade aufgrund dieses Umstands eine tiefe Sympathie entwickelt. Shun ist ein echter Chaot und verbindet in seiner Figur eigentlich so ziemliche alle Vorurteile, die man in Hinblick auf Schriftsteller haben kann. Er ist unorganisiert, pessimistisch bis beinahe grummelig eingestellt und scheint während sozialer Interaktionen (Familienessen, zufällige Treffen mit alten Schulfreunden) im Geiste stets auf irgendeiner Umlaufbahn im Orbit um irgendwelche Planeten zu kreisen, die nur in seinem eigenen Kopf vorhanden sind. Dieses Verhalten, was manchmal teilnahmslos wirken kann, macht Mio das Leben mit Shun nicht gerade leicht. Shuns zentraler Charakterzug ist jedoch sein ausgeprägter Pessimismus, der in einen ziemlich sarkastischen Blick auf das (eigene) Leben mündet und in manchen Situationen fast als schwarzer Humor gewertet werden kann. Diese negative Einstellung lähmt Shun und bildet einen starken Kontrast zu Mio, der bei Problemen in der Regel die positiven Aspekte sieht und dem deshalb das aktive Handeln sehr viel leichter fällt. Dieser Gegensatz sorgt für Reibung und einige Situationen, in denen ich vor Lachen beinahe auf dem Boden gelegen habe. Die Mangaka hat nämlich auch hier eine unverwechselbar amüsante Art, Shuns Charakter zu porträtieren, die dem ganzen Schmerz, den Shun daneben mit sich herumträgt, die Schwere nimmt. Was den Leser ans Shuns Figur jedoch besonders berührt, ist sein geringes Selbstvertrauen. Shun ist so etwas wie der Prototyp aller Selbstzweifler und glaubt in Hinblick auf sich selbst an so ziemlich gar nichts. Um es kurz zusammenzufassen: Er hält sich für wertlos, talentfrei und in jeder berechtigten Hinsicht absolut hassenswert. Shun in diesem Zustand zu sehen, hat mein Herz des Öfteren bluten lassen und ich habe mir nichts mehr gewünscht, als dass Shun endlich auch für sich selbst erkennt, dass er aufgrund seiner Homosexualität nicht verachtenswert ist. Mit einer Figur, die vom Leben nichts mehr erwartet und einem Gegenspieler, der lebenshungrig nach Glück strebt, hat die Mangaka ein dynamisches Paar und eine Beziehung geschaffen, in der der eine Protagonist den Charakter des anderen ergänzt und ihm auch einmal entgegenwirkt, aber noch viel wichtiger – ihm mit seiner bedingungslosen Liebe halt gibt. Während Mio Shun aus seiner Lethargie und seinem Dasein als Inseleremit reißt und ihn nach und nach wieder etwas ins Leben zurückführt, dämpf Shun Mios manchmal allzu naiven und optimistischen Blick auf die Menschen, die ihn umgeben. Und ich kann euch wirklich versprechen, dass das hoch emotionale Ende des vierten Bandes kein Auge trocken lassen dürfte. Nur so viel möchte ich verraten: Ich bin ein großer Fan von Enden, in denen sich Freude und Leid auf eine Art und Weise vermischen, die Glück anklingen lässt, ohne völlig frei von Schmerz zu sein. Denn zu leben, und das ist die Botschaft dieser berührenden Geschichte, bedeutet nicht schlicht Freude oder Leid. Leben bedeutet eine stetige Auseinandersetzung, mit anderen Menschen und mit sich selbst. Für die Anderen wird man immer ein Fremder bleiben, aber die Liebe des einen Menschen, mit dem man sein Leben verbringen möchte, ist das alltägliche Glück, für das man all diesen Schmerz billigend in Kauf nimmt.

Fazit

Was bleibt mir am Ende noch zu sagen übrig? Ein Fremder im Frühlingswind ist ein BL-Manga, der durch eine ausgewogene Mischung aus Humor und ernsten Momenten und sein wundervolles und etwas verschrobenes Figurendesign zu überzeugen weiß, all das eingebunden in eine voller Lebensweisheit steckende Geschichte. Mit Shun und Mio erschafft die Mangaka ein außergewöhnliches Paar zweier Figuren, die beide auf ihre Art am Rande der Gesellschaft stehen, aber genau daraus Kraft und Glück für ihre Liebe schöpfen. Das augenscheinlich seichte Slice of Life-Werk entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als poetischer Roman mit psychologischer Tiefe und unheimlicher atmosphärischer Dichte, die noch angereichert wird durch wundervolle Dialoge. Das zarte und sehr kindliche Artwork unterstreicht den unschuldigen und verletzlichen Grundton des Manga, verzichtet jedoch visuell und inhaltlich auf das BL-typische Uke-Seme-Schema. Es werden in Hinblick auf die homosexuelle Beziehung zwar ein paar wenige Klischees bedient, aber die sehr authentischen und aus dem Leben gegriffen wirkenden – wenn auch eher rar gesäten – erotischen Szenen lassen diesen Umstand vollkommen in den Hintergrund treten. Die humorvoll und stimmig umgesetzten Nebenfiguren und die wunderschönen Coverillustrationen runden die Reihe darüber hinaus ab und lassen die Bände zu einem der wenigen Juwelen unter den BL-Manga werden. Wer eine Vorliebe für unaufgeregte Geschichten mit poetischem Tiefgang und sympathischen und stereotypenfreie Charaktere hegt, dabei aber trotzdem Wert auf Humor und gute Unterhaltung legt, für den sollte Ein Fremder im Frühlingswind zur absoluten Pflichtlektüre gehören. Denn unter uns: Mit dieser Reihe kann man eigentlich gar nichts falsch machen und wen sie kalt lässt, der muss ein Herz aus Stein haben.

Jaa mata ne, eure Amaya!


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