Titel: Der Mann meines Bruders

Originaltitel: My Brother’s Husband / Otōto no Otto

Genre: Drama, Slice of Life

Zeichnungen / Story: Gengoroh Tagame

Bände: 4 / abgeschlossen

Verlag: Carlsen Manga

Erscheinungsjahr des 1. Bands: 2019

Erotische Szenen: Keine

Eine Leseprobe findet ihr auf der Website von Carlsen Manga hier.

Für einen Band, der mir sehr am Herzen liegt, mache ich heute einmal etwas völlig Verrücktes: Ich stelle euch eine Reihe vor, die weder ein BL- noch ein Shōnen Ai-Manga ist und deshalb – streng genommen – auf diesem Blog nichts zu suchen hat. Aber da sich Der Mann meines Bruders schwerpunktmäßig mit dem Thema Homosexualität und der gesellschaftlichen Akzeptanz derselben auseinandersetzt, passt er natürlich trotzdem in mein ‚Beuteschema‘ und ich hoffe jetzt einfach, dass ihr mir nach diesen Worten nicht gleich davon lauft und diesem wirklich herzerwärmenden Manga eine Chance gebt! Ich kann euch versprechen, dass sich das Weiterlesen lohnen wird. Ich war auf besagte Reihe vor allem neugierig, weil der Manga den Eisner Award 2018 in der Kategorie „Best U.S. Edition of International Material Asia“ gewonnen hat. Der Eisner Award ist so etwas wie der Oscar für amerikanische Comic-Schaffende und dementsprechend war ich sehr gespannt auf das Leseerlebnis, welches dieser Preis versprach.

Im ‚echten‘ BL-Genre sucht man ja leider vergeblich nach solchen Auszeichnungen, obwohl ich der Meinung bin, dass manche Werke sich in punkto Qualität nicht hinter ’normalen‘ Manga verstecken müssen – ganz im Gegenteil. Bei Der Mann meines Bruders habe ich auf jeden Fall völlig uninformiert und spontan zugegriffen, was eigentlich ziemlich untypisch für mich ist. Hätte ich Freunde, die wüssten, was ich in meiner Freizeit so treibe aka lese, dann wäre sicher der Satz gefallen: „Du kaufst einen Manga, in dem es keine einzige Sexszene gibt?! Unglaublich! Geht es dir gut?“ Es ist nicht so, dass ich mir die letzte Frage nicht schon öfter selbst gestellt hätte, aber zu meiner Verteidigung muss ich mich an dieser Stelle einmal rechtfertigen und klar stellen, dass ich durchaus auch klassische Manga wie Attack on Titan oder Die Braut des Magiers sehr mag und gerne lese, wenn es denn mein Budget erlaubt, welches sich die anderen Manga-Reihen bekanntlich mit einer Flut an BL-Werken teilen müssen – ein Kampf, in dem sie halt in der Regel den Kürzeren ziehen. Deshalb dürft ihr die heutige Rezension, wenn wir mein Vorhaben positiv betrachten wollen, als eine rare Chance ansehen, denn all zu häufig werden mir solche ‚Entgleisungen‘ nicht passieren.

Inhalt

Für den Yaichi ist beinahe traurige Gewohnheit, was für die meisten anderen Menschen das schrecklichste aller Ereignisse ist: der Tod eines geliebten Familienangehörigen. Bereits in früher Jugend verloren Yaichi und sein Zwillingsbruder Ryoji beide Elternteile. Auf den Verlust der Eltern folgte der frühe Tod des Bruders, der nach seinem Schulabschluss nach Kanada ausgewandert war und dort den Kanadier Mike Flanagan geheiratet hatte. Mit Ryojis Tod wird der Leser in die Handlung des Manga katapultiert, denn plötzlich steht dessen Ehemann in Japan vor Yaichis Haustür und möchte den Ort kennenlernen, an dem Ryoji seine Kindheit verbracht hat. Der riesige bärtige Kanadier Mike wirbelt Yaichis Leben gehörig durcheinander, denn neben dem Umstand, dass Yaichi seiner Tochter Kana nun den unbekannten Onkel und Ehemann des Bruders und den Nachbarn den ausländischen Gast erklären muss, gibt es noch ein viel tiefer greifendes Problem: Yaichi weiß beim besten Willen nicht, wie er mit dem schwulen Witwer umgehen soll, der seine Trauer ganz offensichtlich noch nicht verarbeitet hat. Statt sich durch Ryojis Tod verbunden zu fühlen, öffnet sich eine gewaltige Kluft zwischen den beiden Männern, die nach und nach unbequeme Wahrheiten und verdrängte Erinnerungen aus Yaichis Vergangenheit und einer Zeit ausspukt, als er seinem Zwillingsbruder noch nahe stand.

Zum Glück gibt es Yaichis kleine Tochter Kana! Der vorlaute Wirbelwind ist begeistert von dem Gedanken, plötzlich und unverhofft einen exotischen kanadischen Onkel zu haben, der nicht nur Englisch spricht, sondern auch noch mit einem Mann – dem Zwillingsbruder ihres Vaters, von dem Kana gar nichts wusste – verheiratet war. Kana schließt Mike sofort in ihr Herz und hilft Yaichi dabei, das Thema Homosexualität aus einer kindlichen und völlig anderen Perspektive zu betrachten und zaghaft die ersten Berührungsängste und Vorurteile abzubauen, die er gegenüber Mike hegt. Doch freilich wird nicht alles eitel Sonnenschein. Für den alleinerziehenden Yaichi ist das Konzept der gleichgeschlechtlichen Ehe etwas völlig Absurdes und fügt sich nicht ohne Weiteres in seine konventionelle Vorstellungswelt ein, in der eine Hochzeit nur zwischen Mann und Frau üblich und ’normal‘ ist. Und auch Kana wird nach und nach mit der Frage konfrontiert: Können sich denn auch zwei Männer wirklich lieben?

Ich möchte euch im Folgenden gerne mitnehmen auf meiner Reise durch diesen Manga, der die großen und kleinen Probleme des Menschseins berührt, aber auch vor konkreten gesellschaftlichen Fragestellungen nicht Halt macht. Es geht um die großen allgemeinen Themen wie Liebe und Tod, Freundschaft und Familie, aber auch um konkrete Formen des Zusammenlebens, gesellschaftliche Rollenbilder, Vorurteile, Diskriminierung und das Verständnis des Konzepts der Ehe.

Artwork / Gestaltung

Dass es sich bei Der Mann meines Bruders um eine der Highlight-Reihen im diesjährigen Mangaprogramm von Carlsen handelt, wird bereits anhand der Aufmachung der Reihe deutlich: Die Bände werden im DIN A5-Format, in einem edel wirkenden, dicken, weißen Papiereinband und einigen Farbseiten zu Beginn eines jeden Manga veröffentlicht. Dementsprechend höher liegt der Preis. Für 10,- € pro Band kann der willige Käufer den selbigen im Handel oder online erwerben. Was man vielleicht berücksichtigen sollte: Ein Papiereinband, sei er auch noch so hochwertig, ist der natürliche Feind eines jeden Lesers, der seine Lektüre gerne unterwegs (auf dem Weg zur Arbeit / zur Schule) oder beim Essen genießt. Wenn ihr euch also eher zu den Menschen zählt, die Manga gerne ‚aktiv‘ lesen, dann würde ich empfehlen, dass ihr euch eine Schutzmaßnahme für den blütenreinen weißen Einband überlegt, der leider keinerlei Nachlässigkeit verzeiht. Ansonsten sieht die neue Reihe in eurer Mangasammlung wahrscheinlich recht flott ziemlich durchgenudelt aus, um es mal etwas umgangsprachlicher zu formulieren. Ich hatte Angst, dass mein Band bereits durch das bloße Anschauen Eselsohren bekommt. Auf der sicheren Seite ist man definitiv, wenn man zum Lesen im Bett oder auf dem Sofa bleibt (allerdings auch hier besser ohne Getränke und Lebensmittel in Reichweite, die Flecken auf weißem Grund hinterlassen können – also alle). Insgesamt wirkt die Aufmachung des ersten Bandes sehr jugendlich und verspielt. Das Titelmotiv erinnert mich vom Stil an die Einbände meiner Kinderbücher, die ich in der Grundschule verschlungen habe – schlicht, dabei jedoch angenehm illustrativ. Es ist in bunten, aber zum Glück nicht quietschigen Farben gehalten und verzichtet zu meinem Wohlgefallen auf Glitzerkram und sämtliche Kitschmotive, die man sonst gerne auf Mangacovern vorfindet. Es wird schnell deutlich, dass die Reihe einen seriösen Eindruck erzeugen möchte und neben den jungen Lesern auch die Eltern ansprechen will. Die Bände heben sich optisch deutlich von ihren in Japan produzierten Brüdern und Schwestern ab und vielleicht erkennt man bereits an ihrer äußerlichen Gestaltung den Einfluss der amerikanischen Comic- und Schwulenszene auf den Autor, der überwiegend außerhalb Japans als Künstler und Mangaka aktiv ist.

Diese Tendenz setzt sich im Artwork des Manga fort. Obwohl bereits ein flüchtiger Blick in den ersten Band die Reihe eindeutig als Manga enttarnt, existieren doch klar ersichtliche Unterschiede zu konventionellen BL- und Shōnen Ai-Manga, speziell in Bezug auf das Figurendesign. Während uns in Reihen wie Der Klang meines Herzens sehr androgyne beziehungsweise beinahe feminine Charaktere begegnen, zeichnen sich Gengoroh Tagames männliche Protagonisten durch eine physisch fast schon überzeichnet erscheinende Maskulinität aus. Besonders Yaichis Schwager Mike ist eine wahre Erscheinung und wirkt auf den Leser wie ein riesiger Braunbär, der seine Größe und Muskulösität mit einem weichen Herzen und viel Freundlichkeit verbindet. Es existiert im Mangauniversum wohl kein Charakter, auf den aus visueller Warte die Bezeichnung „sanfter Riese“ besser passt als auf Mike Flanagan. Ich habe bisher noch keine Erklärung für dieses Phänomen gefunden, aber neben den unzähligen hübschen und androgynen jungen Männern, die die Welt der BL-Manga bevölkern, gibt es einige wenige Werke, deren Protagonisten quasi das ‚andere Ende der Fahnenstange‘ bedienen und übermäßig maskulin wirken. Diese Figuren erfüllen optisch alle Anforderungen an einen (teilweise sehr behaarten) Bodybuilder, der den Großteil seiner Freizeit im Fitnessstudio verbringt und unentwegt Gewichte stemmt. Ich bin mir nicht sicher, ob mittels dieser Technik eine zunächst rein visuelle Abgrenzung zu den vielen klischeebehafteten Manga und ihren femininen Figuren vollzogen werden soll oder ob die / der entsprechenden Mangaka einfach betonen möchten, dass es der Leser hier mit ‚richtigen‘ Männern zu tun bekommt, die nicht in die teilweise völlig absurden Vorstellungswelten vieler (weiblicher) BL-Autoren gepresst werden können, in denen es von Klischees und Kitsch nur so wimmelt und die Grenzen zwischen den Kategorien männlich und weiblich zum Teil völlig verschwimmen. Ich kann soweit erst einmal nur festhalten, dass ich diese Unternehmung beziehungsweise diesen Versuch schätze, mich aber mit diesen Muskelpaketen genau so wenig leicht anfreunden kann wie mit den vielen zierlichen Uke, bei denen man, wenn man Pech hat, erst nach der Hälfte der Lektüre überhaupt begreift, dass man hier einen Man vor sich hat (oder vielmehr, haben soll). Sicherlich steckt hinter Yaichis und Mikes äußerlicher Gestalt (und all den anderen ‚bärigen‘ Charakteren) ein bestimmter Gedanke von Gengoroh Tagame, aber erschlossen hat sich mir dieser bisher leider nicht. Meine einzige Vermutung: Der Mangaka möchte mit dem Zeichenstil beziehungsweise der künstlerischen Umsetzung seiner Figuren eines der Vorurteile entkräften, die in Bezug auf Homosexuelle bestehen, nämlich jenes, dass diese Männer eine auch für ihre Umwelt offensichtliche feminine Seite besitzen, die sich in Form einer eher schlaksigen Gestalt und einem tendenziell schrillen Kleidungsstil (mit Vorliebe für die Farbe Rosa sowie Lack und Leder) manifestiert. Letztendlich kann ich dazu nur sagen: Wenn Der Mann meines Bruders durch sein Artwork dazu beiträgt, dieses Klischee zu entkräften, dann kann ich das mehr als befürworten.

Wenn wir von der spezifischen Bedeutung des Figurendesigns für Der Mann meines Bruders absehen, hat die maskuline Optik der Figuren von Gengoroh Tagame (der übrigens – Fun Fact – eigentlich schwule und ziemlich harte BDSM-Comics zeichnet) jedoch auch einen traditionellen Ursprung, nämlich in den sogenannten Gay-Manga (früher auch Bear-Manga genannt), die, im Gegensatz zu den klassischen japanischen BL-Manga, von überwiegend homosexuellen männlichen Künstlern für ein ebenso männliches, schwules Publikum gezeichnet werden. Die Protagonisten dieser Werke entsprechen in der Regel optisch genau Mike Flanagans Typ, dem sogenannten Bear: Sie sind groß und von allem gibt es gefühlt zu viel – Muskeln, Fettmasse, Körperbehaarung. Dieser spezielle Männertyp ist tief in der Kulturgeschichte der amerikanischen Schwulenszene verankert. Es finden sich in Gengoroh Tagames Reihe daher visuell auch explizite Anklänge an die Szene und man sollte beachten, dass der Manga sich damit in einen kulturspezifischen Kontext einordnet.

Vielleicht hat der vorangegangene Absatz wie Kritik gewirkt, aber das sollte er eigentlich nicht sein. Vielmehr möchte ich an dieser Stelle einmal die übersichtliche Gestaltung und den klar strukturierten Aufbau des Manga loben. Die Zeichnungen wirken sehr schlicht, einfach gehalten und auf das Nötigste reduziert, ohne dabei das Wesentliche zu vernachlässigen, was in diesem Fall die Mimik der Figuren und die starke Symbolkraft einzelner Elemente des Manga ist. Obwohl die Charaktere und Hintergründe eines gewissen Detailreichtums entbehren und in ihrer Grundstruktur sehr grafisch und hart gehalten sind, wurde viel Liebe und Mühe in die lebhafte Ausgestaltung der Gesichtszüge der Figuren investiert. Mike, Yaichi und Kana kann der Leser zu jeder Zeit ihre reiche Gefühlswelt aus den mit feinen Linien gezeichneten Gesichtern ablesen. Keine emotionale Regung bleibt dabei verborgen. Trauer, Schmerz, Freude, Wut und Glück sind ebenso leicht zu identifizieren wie Ratlosigkeit und Verwirrung. Der Manga und seine Figuren leben vor allem von der emotionalen Interaktion, die sich zwischen den Protagonisten von Beginn an entwickelt und welche in der lebhaften Mimik derselben reflektiert wird. In diesem Kontext habe ich es ein wenig als Verschwendung empfunden, dass so wenig Aufwand bezüglich des Abdrucks der Augen und Haare betrieben wurde. Die völlig ohne Struktur abgebildeten Frisuren und die sehr rudimentären Zeichnungen von Iris und Pupillen nehmen den Figuren viel von ihrer unmittelbaren Fassbarkeit und so wirken besonders die Blicke von Yaichi und Mike oft etwas tot und leer. Vor allem Kana erweckt jedoch aufgrund des reduzierten Zeichenstils mehr den Eindruck einer Zeichentrickfigur als eines Mangacharakters. Die filigrane Komplexität mancher Hintergrundzeichnung hätte ich mir eher bei den Figuren gewünscht. Für einen Manga, der sich an ein tendenziell sehr junges Publikum richtet, ist der Zeichenstil jedoch sicherlich mit Bedacht gewählt, denn die künstlerische Vielschichtigkeit eines Manga wie In These Words oder Maiden Rose würde jüngere Leser mit Sicherheit visuell überfordern.

Zumal wir nicht vergessen sollten, dass bei Der Mann meines Bruders sicherlich die Geschichte beziehungsweise Botschaft des Manga im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und nicht das Artwork. Zu dieser Intention passt, dass auf künstlerisches ‚Klimbim‘ und experimentelle Darstellungsarten vollkommen verzichtet wurde. Die Panele (und deren Inhalte) bleiben artig in ihrer vorgegebenen rechteckigen Form und verlassen diese maximal zu Gunsten einer der wenigen seitenfüllenden Großformatzeichnungen. Auch das Spiel mit ungewöhnlichen Perspektiven lässt der Mangaka sicher in seinem Werkzeugkasten verstaut. Die meisten Zeichnungen konzentrieren sich auf die Porträtaufnahmen der Figuren oder Darstellungen, die maximal die obere Hälfte des Oberkörpers inkludieren. Gefallen haben mir die vielen Close Ups, die nur mehr die Partie des Gesichts von der Stirn bis zum Kinn oder sogar ausschließlich den Bereich der Augen abbilden. Es sind besonders diese Zeichnungen, in denen die Mimik der Figuren stark in den Fokus des Lesers rückt und die emotionale Grundtendenz der jeweiligen Szene unterstreicht. Sehr gelungen finde ich außerdem die Umsetzung und den Einsatz der Textelemente. Es gibt einige Seiten vollkommen ohne Sprech- oder Gedankenblasen, die dem Leser die ruhige Betrachtung der Szenerie ermöglichen. Durch diese Methode werden kleine Ruheinseln in diesem emotional aufwühlenden Werk geschaffen, an denen der Leser verweilen und das bis dorthin Betrachtete verarbeiten kann. Es sind Momente des Friedens, der Ruhe und der Nachdenklichkeit, nicht nur für den Leser, sondern auch für die Figuren, die an diesen Stellen ihr Zusammensein genießen oder verdrängte Gedanken und Erinnerungen zulassen. Der Leser muss an diesen Punkten viel eigene Interpretationsarbeit leisten und selbstständig Verknüpfungen zu nachfolgenden Szenen herstellen, die wieder Text enthalten. Originell sind auch jene Situationen gestaltet, in denen Yaichis eigene Gedanken parallel zu den aktuellen Geschehnissen abgebildet werden. Die Gedankenblasen enthalten in diesen Fällen die Darstellung einer Gesprächsszene, wie Yaichi sie gerne gestalten würde, wenn er nicht an sozial bindende Kommunikations- und Verhaltensregeln gefesselt wäre, während die tatsächliche Handlung des Manga im Rahmen eben dieser Regeln stattfindet. Die besagten Panele kontrastieren unangemessene Wünsche mit festgelegten sozialen Standards, die nicht aufgebrochen werden dürfen, wenn der soziale Interaktionsprozess entlang gesellschaftlicher Normen gelingen soll.

Des Weiteren gibt es Motive von starker symbolischer Kraft, die sich durch den Manga ziehen. Der Ginkgobaum auf dem Schulhof der Schule, die Yaichi und Ryoji als Kinder besuchten und den Mike gerne sehen möchte, ist laut Yaichi beispielsweise bei einem Taifun umgestürzt. Er und sein Bruder haben früher oft unter diesem Baum gespielt. Der Gingko, der in China und Japan für Lebenskraft und erfüllte Wünsche steht, stürzt mit Ryojis Tod um und wird damit zum Symbol für das erloschene Leben des Zwillingsbruders und für Mikes unerfüllten Wunsch, diesen Baum einmal zu sehen und damit nachträglich einen Anknüpfungspunkt an die Lebensphase seines Mannes zu finden, an der er keinen Anteil nehmen konnte. Im Manga kommen weitere solcher Motive vor, aber die Suche nach diesen möchte ich gerne eurem eigenen Spürsinn überlassen. Bevor ich diesen Absatz abschließe, will ich noch auf ein kleines Detail zu sprechen kommen, das mir viel Freude bereitet hat: Über den Manga verteilt sind immer wieder kleine Abschnitte eingefügt, in denen Mike dem Leser als Erzähler Hintergrundwissen vermittelt, zum Beispiel über die Geschichte der Schwulenbewegung oder die rechtliche Handhabung der gleichgeschlechtlichen Ehe in anderen Ländern. Einige Fakten waren sogar mir neu und deshalb bin ich mir sicher, dass auch ihr eure Freude an diesen Einschüben haben werdet.

Homosexualität als zentrales Thema von Der Mann meines Bruders

Was Der Mann meines Bruders vor allem leistet, ist, dass er die eingefahrenen Denkmuster der Erwachsenen – von uns, den Lesern – reflektiert und aufbricht. Dies tut der Manga, in dem er eine ungewöhnliche Protagonistin einführt: Yaichis Tochter Kana. Sie ist das Bindeglied oder die Brücke zwischen Mike und ihrem Vater und hilft den beiden einander fremden Männern und besonders Yaichi dabei, das Anderssein des Schwagers als etwas zutiefst Menschliches zu verstehen und zu erkennen, dass es neben der ganzen Fremdheit doch auch viele Dinge gibt, die die beiden verbinden. Denn wir müssen Yaichis Figur zugestehen, dass sie mit Mikes unerwartetem Auftauchen doch einen kleinen und nicht unberechtigten Kulturschock durchlebt. Das Thema Homosexualität einmal beiseite, wäre es sicherlich für jeden von uns eine verunsichernde und befremdliche Situation, wenn mit einem Mal urplötzlich der Ehemann des verstorbenen Geschwisterteils in unserem Vorgarten stünde, der aus einem völlig anderen Land stammt und den wir noch nie zuvor getroffen haben. Neben der Sprachbarriere (von der wir in Der Mann meines Bruders allerdings nichts spüren) und den kulturellen Differenzen gesellt sich im Manga zusätzlich noch der für Yaichi verstörende Umstand hinzu, dass Ryoji und Mike eine gleichgeschlechtliche Liebesbeziehung geführt haben und verheiratet waren. Dieser „Ausländer“, der da an die Tür von Kana und ihrem Vater klopft, wirbelt Yaichis geordnetes Leben und seine in Hinblick auf zwischenmenschliche Beziehungen bestehenden Erfahrungswerte und Denkkategorien gehörig durcheinander. Das Verhältnis, in dem Mike und Ryoji zueinander standen, bewegt sich zu Beginn der Reihe vollkommen außerhalb von Yaichis bisheriger Vorstellungswelt. Seine Berührungsängste sind deshalb zunächst einmal eines – menschlich. Aufgrund der völlig neuen Situation und der Tatsache, dass er in dieser auf keine seiner erlernten sozialen Verhaltensmuster, eigene Erfahrungswerte oder gesellschaftlich klar definierte Rollenbilder zurückgreifen kann, ist Yaichi verunsichert und aus der Bahn geworfen und weiß schlicht nicht mehr, wie er Mike behandeln soll. Im Laufe seines Lebens wurde Yaichi von der Gesellschaft sozial geformt und hat in der Interaktion mit anderen Menschen gelernt, Personen in Rollen und Kategorien einzuordnen, denen spezifische Verhaltensmuster zugewiesen werden. Die Gruppierungen einer Gesellschaft und das einzelne Individuum tragen wechselseitig Verhaltenserwartungen aneinander heran, die im sozialen Miteinander ständig ausgelotet und reziprok bestätigt werden. Mike durchbricht diese Schablonen, die in Yaichis Gehirn angelegt sind zwingt ihn dazu, einige der mühsam erlernten Muster zu verwerfen. Der Manga zeigt sehr schön auf, dass dies mit einer eigentlich vollkommen irrationalen Ablehnung oder Angst verbunden ist, denn Mike ‚gefährdet‘ nicht viel mehr als Yaichis bisherige Vorstellung davon, wie die Welt, die ihn umgibt, zu sein hat. Der Mensch ist allerdings ein ziemlich seltsames Wesen und bei den meisten Personen reicht ein solches Ereignis aus, um sie aus der Bahn zu werfen.

An dieser Stelle kommt Kana ins Spiel. Sie bricht die kategorische Ablehnung des Vaters bereits während der ersten Begegnung mit Mike auf, indem sie sich nicht an den Unterschieden stößt, sondern sogleich Gemeinsamkeiten zwischen sich und dem Fremden entdeckt: Ihr Name, Kana, klingt ein wenig wie das Land, aus dem Mike kommt, Kanada. Die nicht vorhandenen Berührungsängste resultieren aus dem Umstand, dass Kana sehr jung ist und aus diesem Grund noch nicht so sozial geformt und voreingenommen wie ihr Vater. Sie befindet sich in einer Phase ihres Lebens, in der sie erst dabei ist, sich soziale Rollen und von der Gesellschaft determinierte Denkmuster zu erschließen und daher noch offen und aufnahmefähig für Neues. Der Mann meines Bruders kontrastiert diese kindliche Perspektive auf die Welt mit jener der Erwachsenen und greift auf, was aus dem genannten Grund Kinder besonders gut können: sich einem unbekannten Objekt oder einer unbekannten Situation unvoreingenommen, offen und neugierig nähern. Was Yaichi, dem Erwachsenen, „komisch“ vorkommt, nämlich eine Heirat unter Männern, findet Kana erst einmal gar nicht seltsam, sondern vielmehr die Tatsache, dass Männer nicht überall auf der Welt, sondern nur in manchen Ländern die Ehe schließen können. An dieser markanten Stelle prallen zwei Ansichten aufeinander, die noch einmal die signifikante Differenz der kindlichen und erwachsenen Perspektive auf die soziale Umwelt unterstreichen. Yaichi denkt in sozialen Rollenbildern und da eine gleichgeschlechtliche Beziehung hierbei aus seinem Raster fällt, kategorisiert er diese als abnormal und komisch. Kana, der solche statischen Denkmuster noch fremd sind, erkennt vielmehr die – objektiv betrachtet – enormere Seltsamkeit, nämlich den Umstand, dass einige Länder die gleichgeschlechtliche Ehe anerkennen und andere nicht. Mit Kanas Figur befreit der Manga unsere eingefahrenen Denkmuster von sozialen und geschlechtlichen Konnotationen und enthüllt das, was am Ende übrig bleibt: die Ungerechtigkeit, die homosexuelle Menschen erfahren. Gengoroh Tagame lässt Mike zu Beginn des Manga übrigens einen sehr klugen Satz sagen, der ebenfalls in diesen Kontext passt. Auf Kanas Frage an den Vater, woher denn dieser „Ausländer“ käme, antwortet Mike: „Nicht Ausländer, sondern Kanadier.“ Damit ermutigt er Kana, ihn nicht einfach nur als einen undefinierten Fremden, einen vagen Eindringling von außerhalb Japans zu betrachten, sondern als Menschen, der eine Heimat und einen Ursprung hat und damit alles andere als eine unspezifische Existenz ist. Er gehört einer größeren sozialen Gruppe an. Überträgt man das diesem Gedanken zugrunde liegende Grundgerüst auf das Thema des Manga, dann könnte man sagen, dass hier ein ganz klarer Appell formuliert wird: Kana und Yaichi (und wir als Leser) sollen Mike (und homosexuelle Menschen im Allgemeinen) nicht als den gefürchteten Unbekannten mit einer seltsamen Lebensweise oder sexuellen Orientierung erleben, sondern ihn bewusst als Menschen wahrnehmen, der sich lediglich – nicht anders als ein Kanadier oder Japaner – durch einige Differenzen in seiner Lebensweise von Kana und ihrem Vater unterscheidet. Mit dieser Herangehensweise wird allem Fremden, das Mike für die beiden Protagonisten verkörpert, der Schrecken genommen und plötzlich wirkt er nahbar und gar nicht mehr so anders.

Gengoroh Tagame entlarvt auf diese Art, dass es letztendlich vor allem aus mangelndem Wissen resultierende Vorurteile sind, die Yaichi Mike und seiner Homosexualität gegenüber so ablehnend reagieren lassen. Es ist eine der Stärken des Manga, dass er für das, was er ausdrücken möchte, so treffende und immer aus dem Leben entliehene Beispiele findet. In diesem Fall wird Yaichis Voreingenommenheit mit Tempura-Sushi verglichen, eine Speise, die von in Kanada lebenden Japanern kreiert wurde. Ohne diese Sushi-Art jemals probiert zu haben, reagiert Yaichi missbilligend und vermutet einen schlechten Geschmack. Objektiv betrachtet, ist dies ein völlig irrationales Verhalten. Auf die selbe Art verfährt er mit Mike, dessen sexuelle Orientierung er als „komisch“ empfindet und ablehnt, ohne sich je näher mit dem Thema Homosexualität beschäftigt zu haben. Dabei stehen zwischen Yaichi und diesem neuen Wissensfeld lediglich persönliche Berührungsängste und vermeintliche Hürden der Höflichkeit, die niedergerissen werden müssen. Aber wir wissen alle, dass dies manchmal leichter gesagt als getan ist. Zu groß ist die Angst davor, dem Gegenüber zu nahe zu treten oder mit zu persönlichen Fragen die Privatsphäre zu verletzen. Wie so oft sind es das uns antrainierte ‚gute Benehmen‘ und die vermeintlich sozial erwünschten Verhaltensweisen, die uns von spannenden Erkenntnissen trennen. Auch hier fungiert erneut Kana als Schlüsselfigur und treibende Kraft des Manga. Das sozial noch relativ ungeformte Mädchen fragt Mike offen, wenn sie etwas interessiert und sie etwas über sein Zusammenleben mit einem anderen Mann wissen möchte, was Yaichi manchmal ziemlich ins Schwitzen bringt. Ein zentrales Thema bildet dabei die Frage nach der Verteilung der Geschlechterrollen in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft. Kana möchte von Mike ganz explizit wissen, wer denn nun die Frau in der Beziehung war: er oder Ryoji? Aus dieser Frage lässt sich schlussfolgern, dass Kana zwar sozial noch formbar ist, die grundlegende Vorstellung, dass eine gesellschaftlich akzeptierte Partnerschaft immer einen weiblichen und einen männlichen Part erfordert, aber bereits verinnerlicht hat.

Diese klassischen Rollenbilder, die mit Geschlechterstereotypen überladen sind, müssen in Der Mann meines Bruders aufgebrochen werden, damit sich die Protagonisten auf die Themen Homosexualität und gleichgeschlechtliche Ehe einlassen können. Die Vorstellung, dass sein Bruder Ryoji in einer Beziehung, vor allem in sexueller Hinsicht, die Rolle einer Frau ‚gespielt‘ hat, war es primär, die Yaichi nicht nur abgeschreckt, sondern förmlich abgestoßen hat. Mir als begeisterter BL-Leserin liegt dieser Gedankengang völlig fern, aber offensichtlich scheint dies der Dreh- und Angelpunkt vieler Überlegungen zu sein, wenn wir uns über Begriffe wie Homophobie unterhalten. Vielleicht werden homosexuelle Beziehungen, vor allem zwischen Männern, vordergründig über die sexuelle Komponente bewertet und es ist der Analverkehr, welcher in unserer Gedankenwelt nach wie vor als etwas Schmutziges und Widernatürliches verankert ist, der als wesentlicher Aspekt den äußerst negativen Blickwinkel vieler Menschen auf schwule Männer bedingt. Wie ihr hier nachlesen könnt, ist dieses Vorurteil jedoch eigentlich unhaltbar. Darüber hinaus spielen in die starke Fokussierung auf die konventionelle Rollenverteilung innerhalb der Ehe zum Teil religiöse Motive hinein. Yaichi denkt an einer Stelle des Manga, an der er seine Gedanken zu reflektieren versucht, zum Beispiel an Adam und Eva, das Paar, das Gott gemäß der Bibel als die ersten beiden Menschen erschuf. Der mächtige Gedanke, dass die Welt von Beginn der Zeit an auf scheinbar natürliche Weise in eine männliche und eine weibliche Hälfte eingeteilt war, macht es gerade bei konservativen und gläubigen Menschen sehr schwer, diese einmal geöffneten geschlechtlichen Schubladen wieder zu schließen und neu zu befüllen. Die Religion macht in dieser Hinsicht vieles schwerer. Doch gerade diese Neubefüllung muss vollzogen werden, wenn wir in Hinblick auf das Thema Homosexualität ein gesamtgesellschaftliches Umdenken erreichen wollen. Ein solcher Reflexionsprozess setzt bei Yaichi langsam ein, als Mike Kana erklärt, dass eine gleichgeschlechtliche Beziehung nicht auf dem Fundament fußt, dass ein Partner die Rolle der Frau übernimmt oder spielt. Eine Ehe mit einem anderen Mann zu führen, bedeutet nicht, die eigene Identität als Mann in Frage zu stellen oder gar aufzugeben. Yaichi, der bisher stets versucht hat, Mike und seinen Bruder in die Kategorien Ehemann und Ehefrau einzuordnen, zeigt sich über Mikes Erläuterung, dass er und Ryoji beide Ehemänner waren, sehr erstaunt. Vielleicht konnte Yaichi das Verhältnis der beiden Männer zueinander bisher nie als gleichberechtigt anerkennen, weil er wie selbstverständlich davon ausging, dass einer der Partner sich für den Rest seines Lebens verstellen muss, um die fehlende weibliche Komponente in der Beziehung zu kompensieren. So wurde zwar die Heirat hingenommen, die echte Liebe dahinter aber in Frage gestellt.

In Bezug auf die Ehe kehrt sich das Verhältnis zwischen Vater und Tochter wieder um. Kana reißt die Hürden nieder, die bisher zwischen Yaichi und einer Auseinandersetzung mit dem Thema Homosexualität und damit letztendlich auch dem Verhältnis zu seinem Bruder Ryoji standen, zu dem er seit Jahren keinen Kontakt mehr gepflegt hat. Die Protagonistin nimmt das Zusammenleben zweier Männer als selbstverständlich hin, aber das Konzept der Ehe versteht sie (noch) nicht. Auf die Anmerkung einer Freundin, dass zwei Menschen aus Liebe heiraten, reagiert Kana nachdenklich und etwas ratlos. Hier ist es an Yaichi, Erklärungen anzustrengen und seiner Tochter verständlich zu machen, warum zwei Menschen überhaupt eine Eheverbindung schließen. Letztendlich wird hier klar, dass es dem Mangaka nicht nur um den Abbau von Vorurteilen gegenüber Homosexuellen geht, sondern auch darum, die Ehe als Liebesverbindung aufzuwerten und aufzuzeigen, dass es innerhalb dieser Institution verschiedene Konstellationen geben kann, die jedoch über den zentralen Liebesgedanken verbunden und einander ebenbürtig sind. Mit der Aufgabe, dieses Element zu vertreten, wird Yaichis Figur beauftragt. Mit Fortschreiten der Reihe werden wir sicherlich noch weitere Konzepte des Zusammenlebens kennenlernen, denn Yaichi und seine Frau beziehungsweise Kanas Mutter scheinen zum Beispiel getrennt zu sein. Kana und ihr Vater ergänzen sich wie im realen Leben wechselseitig und erzeugen in der Interaktion miteinander neue soziale Verhaltens- und Wissenskategorien. Mike ist dabei das ‚Studienobjekt‘ beziehungsweise verkörpert in personifizierter Form den Begriff der Homosexualität, wenn man es so nennen möchte. Der Mann meines Bruders bildet im Kleinen ab, was in unserer Gesellschaft tagtäglich im Großen stattfindet, nämlich die kontinuierliche Auslotung gesellschaftlicher Regeln im kommunikativen Miteinander. In diesem kontinuierlichen sozialen Miteinander, dem sich niemand entziehen kann, erkennt Gengoroh Tagame auch die gewaltige Chance, die sich für Themenfelder wie das der Homosexualität bietet. Er nutzt das Medium des Manga bewusst, um in diesen sozialen Diskurs vorzustoßen. Jede Berührung eines Menschen mit der Thematik erzeugt Wellen, die nach und nach den gesellschaftlichen Pool, in dem wir alle schwimmen, aufwühlen und die darin befindlichen Objekte in Schwingung bringen.

Nicht zuletzt übernimmt auch Mike die Funktion eines Bindeglieds, und zwar dem zwischen Yaichi und seinem toten Bruder. Dies mag zunächst paradox erscheinen, ist der Kanadier doch augenscheinlich die Ursache für das über die Jahre zunehmende Gefühl der Entfremdung zwischen Yaichi und Ryoji, doch es ist ebenso Mike, der im Manga diese Verbindung wieder herstellt. Über den schwulen Schwager, der aufgrund seiner sexuellen Orientierung in gewisser Weise auch eine Komponente von Ryojis Existenz verkörpert, erlangt Yaichi zaghaft Zugang zu einem Teil der Gedanken- und Lebenswelt des toten Zwillingsbruders, der ihm bis dato vollkommen verschlossen gewesen war. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Mann seines Bruders gelingt es Yaichi, vergessene Erinnerungen wiederzubeleben und sein Verhältnis zu Ryoji neu zu reflektieren und zu ordnen. Durch Mike kommt Yaichi dem toten Bruder wieder näher. Und so siegt bereits gegen Endes des ersten Bandes das verbindende Element zwischen den beiden einander fremden Männern über alle Vorurteile: die Trauer um und die Erinnerungen an Ryoji schaffen Verbindungen, wo in einem anderen Fall bestimmte Hürden vielleicht nie überwunden worden wären. Es ist ein weiterer Grundgedanke des Manga, dass der Tod nicht nur Menschen auseinanderreißen, sondern auch bis dahin getrennt verlaufende Wege zusammenführen kann.

Mit all diesen schönen Ansätzen ist das einzige wirkliche Manko, welches ich Der Mann meines Bruders am Ende ankreiden kann, dass die Figuren zwar vorzüglich die erwähnten ihnen zugedachten Funktionen erfüllen und Rollen spielen , dabei aber leider ihre Persönlichkeiten (bis hierher) vollkommen hinter dem Konzept des Manga zurücktreten. Es bleibt wenig Raum für Yaichi, Mike und Kana, um sich auch einmal jenseits der vorgesehenen Pfade entfalten zu können. Es sind zu viele Perspektiven, die dargestellt und abgearbeitet werden müssen, als dass ausreichend Platz für ein ausgefeiltes Charakterdesign bliebe. Auch in Bezug auf Ryoji beschränken sich die Informationen auf die notwendigsten Aspekte, die für den Fortlauf und die Entwicklung der Handlung offen gelegt werden müssen. Dazu gehören der Zeitpunkt von Ryojis Coming Out sowie seine unerwartete Auswanderung. Ich möchte aber einschränken, dass dem ersten Band noch weitere drei Bände folgen werden und es für Gengoroh Tagame dort noch ausreichend Gelegenheit geben wird, die Charaktere der Figuren weiter zu entfalten. Vor allem Yaichi bleibt im ersten Band verhältnismäßig eindimensional oder klischeebehaftet. Er ist der typische alleinerziehende Vater einer kleinen Tochter mit konservativem Weltbild, der homophobe Züge aufweist und allem Neuen erst einmal ablehnend gegenübersteht. Es wird sehr deutlich, dass bei diesem Manga ganz klar die Geschichte und die mit ihr verbundenen Botschaften im Mittelpunkt stehen, und nicht die Figuren selbst.

Fazit

Mit Der Mann meines Bruders stemmt sich Gengoroh Tagame mit aller Kraft gegen die eingefahrenen Muster, in denen wir – besonders in Bezug auf Themen wie Homosexualität – täglich denken, und, was noch viel schwerer wiegt, handeln. Und das tut der Mangaka auf eine so anschauliche, simple und voller Lebensweisheit steckende Art, dass es eine Freude ist Kana, Yaichi und Mike dabei zuzusehen, wie sich sich trotz aller kulturellen und persönlichen Unterschiede und allen Vorurteilen zum Trotz im sozialen Miteinander einander annähern. Es ist aufgrund der illustrativen und farbenfrohen Gestaltung zwar offensichtlich, dass der Manga sich an ein recht junges Publikum oder die Eltern desselben richtet, aber die schlichten und zum Teil eher einfachen Zeichnungen bestechen durch eine ausdrucksvolle Mimik der Figuren und sorgfältig platzierte Symbole, die auch für erwachsene Mangafans einen ausreichenden Leseanreiz schaffen. Aufgrund der recht komplexen Grundthematik bleibt das Charakterdesign eher reduziert und die Figuren agieren vornehmlich als Funktionsträger der Inhalte. Strukturell ist Der Mann meines Bruders übersichtlich gegliedert, sprachlich immer pointiert und auf den Punkt gebracht und zu keiner Zeit mit Text überladen. Die Dialoge lassen nicht unbedingt erkennen, dass es sich bei dem Manga um eine Publikation aus dem Kinder- oder Jugendbereich handelt, weshalb ihr keine Angst haben müsst, dass die Texte euch langweilen – sie sind ausreichend komplex und laden an einigen Stellen zum Verweilen und Nachdenken ein. Inhaltlich verdient der Manga definitiv das Prädikat „pädagogisch wertvoll“, denn ich habe selten eine Veröffentlichung im Jugendbuchbereich gesehen, die sich so intensiv und reflektiert und dabei vollkommen unaufgeregt, ohne belehrenden Unterton und dabei noch mit hohem Unterhaltungsfaktor mit dem Thema Homosexualität auseinandersetzt. Es werden gängige Vorurteile dargestellt und aufgebrochen und Mechanismen erläutert, die zur Entstehung und zum Abbau derselben beitragen. Das alles wird getragen von sympathischen Protagonisten, die in den Folgebänden der Reihe hoffentlich noch an charakterlicher Tiefe gewinnen. Von mir gibt es für Der Mann meines Bruders auf jeden Fall eine ganz klare Kaufempfehlung, wenn ihr einmal eine Reihe zur Hand nehmen möchtet, die zwar thematisch noch mit dem BL-Genre verbunden ist, sich in der Art der Darstellung aber doch recht weit von diesem entfernt und im Gegensatz zu den femininen Uke, ausufernden Sexszenen und dem rosa Glitzer einen beinahe dokumentarischen Charakter entwickelt.

Jaa mata ne, eure Amaya!


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