Jeden Monat nehme ich mir aufs Neue vor, den nächsten Beitrag nicht erst auf den ‚letzten Drücker‘ online zu stellen. Und jeden Monat scheitere ich an diesem Vorsatz aufs Neue und ertappe mich, wie ich zwei Tage vor Monatsabschluss nachts um eins an meinem Laptop sitze und hektisch (oder vielmehr panisch) auf meine Tastatur einhämmere (so auch heute) *schwitz*. Irgendwie habe ich manchmal das Gefühl, ohne ausreichend Zeitdruck kann ich nicht arbeiten. Bitte verzeiht mir auch diesmal, falls ihr schon seit Tagen ungeduldig am Warten seid!

Ich hoffe, es ist jetzt niemand zu enttäuscht, wenn es auch diesen Monat wieder keinen Beitrag zu einem ‚richtigen‘ BL-Manga geben wird (wir erinnern uns: Im Januar war u.a. Banana Fish im Rennen und im Februar wurden andere Manga von Am Beispiel meines Bruders ausgestochen). Nächsten Monat kommt wieder einer, das verspreche ich euch ganz fest! Aber irgendwie hatte ich Lust zu einem Thema zu schreiben, dem ich in den letzten Monaten (wieder) oft begegnet bin und das ich schon lange in einem Beitrag verarbeiten wollte. Es geht, wie ihr sicher schon dem Titel entnehmen konntet, um das Vergewaltigungsmotiv in BL-Manga. Ich würde auf Grundlage meiner eigenen vorsichtigen Schätzung behaupten, dass in etwa vierzig Prozent aller BL-Manga auf dem japanischen Markt der Geschlechtsverkehr von einem der beiden Protagonisten nicht unbedingt freiwillig vollzogen wird. Freiwillig meint in dieser Hinsicht „in gegenseitigem Einvernehmen“, wie in der Rechtsprechung so schön formuliert wird. Wobei der Begriff „Einvernehmen“ in BL-Manga durchaus flexibel ausgelegt werden kann. Manchmal stimmen die beiden Protagonisten dem ganzen Prozedere zwar einvernehmlich zu, aber oft vor dem Hintergrund, dass das Opfer mittels zwielichtiger Methoden erpresst wird (zum Beispiel in Das Spiel von Katz und Maus). Von „freiwillig“ kann jedenfalls (zunächst) nicht die Rede sein. Am Ende wird natürlich alles gut und die Figuren verlieben sich in der Regel ineinander, aber wenn man in das ganze Ausgangsszenario mal ein paar eigene Gehirnzellen der qualitativ hochwertigeren Sorte investiert, dann ist das alles schon ziemlich strange, um es vorsichtig auszudrücken.

Als Viel-BL-Leser, wie ich es bin, stumpft man gegenüber diesem Schema nach einiger Zeit etwas ab und nimmt es nicht mehr als das wahr, was es teilweise eigentlich ist, nämlich die Verharmlosung einer Straftat. Ich nehme an meinem eigenen Leseverhalten manchmal war, dass ich über solche Szenen, die meistens am Anfang eines BL-Manga stehen, mittlerweile mit einem Schulterzucken und dem Gedanken „mal wieder das Übliche“ drüber wegsehe. Aber liegt die Sache wirklich so leicht auf der Hand? Immerhin ist eine Vergewaltigung ein sehr sensibles Thema und ein erschütterndes Ereignis. Durch die BL-Szene im WWW geistern zwei ziemlich gegensätzliche Positionen, über die ich vor einigen Tagen mal wieder zufällig gestolpert bin. Es gibt die eine Fraktion, die alles mit einem Handwinken und dem Argument abwiegelt, das sei doch reine Fiktion und so viel künstlerische Freiheit müsse man einem fiktiven Werk beziehungsweise dem / der Mangaka schon zugestehen. Und dann gibt es die andere Fraktion, die hinter jeden ihrer Sätze zehn wutschnaubende Emoticons setzt und Gott und die Welt verteufelt, wenn sie über einen Manga besagter Art stolpert (das meine ich übrigens nicht böse. Mir sind zu kritische Menschen lieber als solche, die überhaupt nicht (nach)denken). Beim Lesen in den Foren fiel mir auf jeden Fall auf, dass ich zu diesem Thema eigentlich gar keine eigene Meinung habe. Das wollte ich ändern und so verbrachte ich die folgenden Tage grübelnd. Fremde Menschen, die mich mit leidensschwerer Miene durch die Gegen traben gesehen haben, dachten sicherlich, dass in meinem Kopf gerade ein Plan entsteht, mit dem ich die Weltherrschaft an mich reißen will. Zum Glück kann niemand Gedanken lesen und meine im Gegensatz dazu eher banaleren Überlegungen blieben der Welt verborgen (dafür dürft ihr jetzt daran Teil haben). Aber nun zum Thema.

Grob untergliedert, existieren in BL-Manga drei Szenarien, in denen eine Figur von einer (oder im schlimmsten Fall von mehreren) anderen Figur(en) zum Sex gezwungen wird. Es gibt die Ausgangssituation, in der eine Vergewaltigung als das dargestellt wird, was sie ist: eine für das Opfer traumatisierende Tat. Ein beliebter Ort hierfür, so makaber das jetzt klingen mag, ist, vor allem in koreanischen Manhwa, der Geräteraum der Schulsporthalle, zum Beispiel in What Lies at the End oder The Perfect Relationship. Die Täter sind meistens Schulkameraden, die sich an ihrem Mobbingopfer vergehen. In diesen Manhwa und Manga gibt es zwischen Täter und Opfer keine anschließende Romanze mit Happy End, aber da die Tat an sich hier auch nicht beschönigt wird, will ich mich mit diesem Szenario nicht detaillierter auseinandersetzen. Mir geht es vielmehr um Ausgangssituation Nr. 2 und Nr. 3. Nr. 2 spielt sich wie folgt ab: Einer der beiden Protagonisten (in der Regel der Uke) verbirgt irgendein zwielichtiges Geheimnis. Das kann zum Beispiel eine Affäre mit einem anderen Mann sein, von der besagte Figur unter keinen Umständen möchte, dass diese an die Öffentlichkeit gelangt. Unser Gegenspieler, Protagonist zwei, kommt diesem Geheimnis auf die Schliche und sammelt eifrig Beweismaterial, meistens in Form von Fotos oder Videos. Mit diesen erpresst er sein Opfer und verlangt, quasi als Gegenleistung für sein Stillschweigen – klar, Sex! Es kommt hier zwar nicht zu direkter körperlicher Gewaltanwendung, aber was bleibt Protagonist eins auch anderes übrige, als diesem zwielichtigen Deal zuzustimmen? Von „Geschlechtsverkehr aus freiem Willen“ kann hier jedenfalls nicht die Rede sein, sondern vielmehr von Sex, der mit psychischen Druckmitteln erzwungen wird.

Richtig in die Vollen geht der / die Mangaka mit Szenario Nr. 3. Die Ursache für sein Verhalten kann variabel sein, sie reicht von Trunkenheit bis hin zu rasender Eifersucht, aber es endet immer damit, dass der Seme über den Uke herfällt und gegen dessen ausdrücklichen Willen mit ihm Geschlechtsverkehr hat. Ihr mögt jetzt denken: In wie vielen Manga kommt diese Situation schon vor? Aber lasst euch gesagt sein, bei genauerer Betrachtung sind die Manga, in denen eine solche Situation nicht als Initiator der Liebesbeziehung instrumentalisiert wird, gefühlt in der Minderheit. Das beginnt bei Junjou Romantica („junjou“ bedeutet so viel wie unschuldig; vollkommen unschuldig ist die Romanze dann wohl letztendlich aber nicht mehr), erstreckt sich über Finder und endet bei anderen populären Werken wie Verliebter Tyrann. Die genannten Manga haben gemein, dass den Ausgangspunkt der Liebesbeziehung eine Vergewaltigung bildet. Das kann man an dieser Stelle auch nicht schönreden. Weder Misaki noch Takaba oder Soichi schlafen beim ersten Mal „freiwillig und in gegenseitigem Einvernehmen“ mit ihren späteren Partnern. In allen besagten Szenen fällt mehrmals der Satz „Ich möchte das nicht“ oder das Wort „nein“. Würden die Figuren es drauf anlegen, könnten sie in der Realität ohne Probleme eine Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs erwirken.

In den japanischen Manga wird eine Vergewaltigung aber in zwei Bewertungskategorien eingeteilt: Sie ist legitim, wenn Täter und Opfer eigentlich romantische Gefühle füreinander haben, die vom Uke zu besagtem Zeitpunkt aber noch nicht realisiert werden können. Dann empfindet das Opfer während des Aktes sexuelle Erregung. Die Vergewaltigung ist hingegen nicht legitim, wenn auf der Seite des Uke keine Gefühle für den Täter im Spiel sind. Hier wird die Tat als abstoßend empfunden und in einen negativen Kontext gesetzt. Was die beiden Protagonisten im weiteren Verlauf des Werkes emotional füreinander empfinden, ist also ein zentraler Faktor. Die Vergewaltigung wird in ersterem Fall weniger als Straftat betrachtet, sondern vielmehr als starkes körperliches Verlangen nach dem Menschen, den der Seme liebt. In Ermangelung anderer Mittel manifestieren sich die emotionalen Kräfte der Liebe in einer physischen Handlung. Diesen Umstand kann man jetzt natürlich betrachten wie man möchte und zweifelhaft bleibt er aus meiner Sicht trotzdem, aber zumindest steht in den meisten BL-Manga damit nicht der vorsätzliche Wunsch des Seme im Vordergrund, den Uke wirklich zu verletzen oder zu erniedrigen. Hinter Vergewaltigungen stehen in der Realität oft niedere Hass- oder Machtmotive, und diese Komponente fällt in BL-Manga weg. Wenn man sehr gutmeinend argumentieren will, kann man vielleicht sagen, dass der Seme unbeholfen oder verzweifelt ist und keinen anderen Weg weiß oder kennt, um seine Gefühle gegenüber dem Uke auszudrücken. Akihiko Usami, ein „Bengel aus reichem Hause“, hat zum Beispiel nie gelernt, dass es Dinge gibt, die man sich nicht einfach nehmen kann und dass Rücksichtnahme im Umgang mit anderen Mitmenschen ein entscheidender Faktor ist. Die eigenen Gefühle und Wünsche gegenüber Freunden und Familie zu artikulieren, ist ihm fremd, denn er ist insgesamt eine sehr selbstzentrierte und narzisstische Persönlichkeit. Dementsprechend ist es für ihn selbstverständlich, dass er sich von Misaki einfach nimmt, wonach ihm gerade der Sinn steht: Sex. Akihiko unterliegt dabei dem Irrglauben, dass Misaki seinen Handlungen schon entnehmen wird, welche Intention eigentlich dahinter liegt: Liebe. Damit drückt sich in der Vergewaltigung ein grundlegendes Kommunikationsproblem in Junjou Romantica aus, nämlich die Unfähigkeit des Seme, eigene Emotionen und Gefühle in Worte zu fassen. Die Vergewaltigung kann hier deshalb vielleicht als pathologisches Symptom verstanden werden, dessen Ursache im Verlauf der Reihe ‚kuriert‘ werden muss. Man kann die Vergewaltigung in vielen BL-Werken ähnlich verstehen, nämlich als Symbol dafür, dass ein nonverbales Problem vorliegt, was über den gesamten Manga hinweg in der Kommunikation der beiden Protagonisten aufgelöst wird.

Rational betrachtet ist es jedoch vollkommen verrückt, dass sich aus einer solchen Ausgangslage eine spätere Liebesbeziehung entwickeln soll. Sich in jemanden zu verlieben, der das Vertrauen in ihn auf eine solch demütigende, verletzende und intime Art und Weise missbraucht hat, erscheint mir unmöglich. Es geht mir jedoch auch weniger darum, dass dieser Umstand in besagten Manga einfach ignoriert wird, sondern vielmehr um die Tatsache, dass die Werke zudem noch das Bild erzeugen, dass die Opfer während der Tat Gefallen daran finden und sexuell erregt sind. Der erste Band von Finder ist wegen der BDSM-Darstellung nicht umsonst auf der Liste der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien gelandet. Die Begründung hierzu war, dass minderjährigen Lesern nicht suggeriert werden solle, dass körperliche Gewalt sexuelle Lust hervorrufen könne. Nun, wir wollen nicht abstreiten, dass sie das in manchen Fällen tun kann (spätestens seit 50 Shades of Grey wissen wir das alle), aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass ein solcher Manga in den falschen (zu jungen) Händen vielleicht eine verquere Vorstellung von Liebe und Lust erzeugen kann. Ich bin kein Jugendpsychologe und kann nicht einschätzen, in wie weit sich Kinder oder Jugendliche tatsächlich zu solchen Ideen hinreißen lassen, aber an dieser Stelle bejahe ich grundlegend die Entscheidung einer staatlichen ‚Zensurstelle‘, wenn man so möchte. Vorsicht ist in manchen Fällen besser als Nachsicht. Nur, wenn wir hier streng sind und der Argumentation der BPjM folgen wollen, müssten wir ziemlich viele BL-Manga für Jugendliche verbieten. Junjou Romantica ist beispielsweise nicht erst ab 18 Jahren freigegeben, genau so wenig wie Verliebter Tyrann. Vielleicht sind diese Werke sogar potenziell ‚gefährlicher‘ als Finder, denn die Vergewaltigung an sich ist in diesen Manga sehr viel weniger offensichtlich und wird nicht unbedingt als solche wahrgenommen, schon gar nicht auf einer symbolischen Ebene. Nichtsdestotrotz folgt sie demselben Schema, denn auch Misaki und Soichi empfinden während des anfangs nicht einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs sexuelle Erregung. Was ich damit sagen möchte: Ich kann es grundlegend verstehen, wenn manche Leser solche Manga als gewaltverherrlichend ablehnen, nicht zuletzt wegen des grundlegenden Bildes, das sie suggerieren: Man muss sich jemandem körperlich nur möglichst offensiv aufdrängen und früher oder später wird sich die Abneigung in Liebe verwandeln. Dieser Illusion stehen in unserem Jahrhundert zum Glück ausreichend andere Medien entgegen, die diese Vorstellung in der Gedankenwelt eines jeden Lesers nivellieren dürften, aber theoretisch ist dies der vermeintlich offensichtliche Gedanke, der Manga wie Verliebter Tyrann zu Grund liegt. Wobei ich persönlich der Meinung bin, dass wir in unserer aufgeklärten, freien und gebildeten Gesellschaft Jugendlichen ab einer gewissen geistigen Reife durchaus die Fähigkeit zur Differenzierung zutrauen dürfen und sollten. Wie in vielen Fällen bilden sich Meinungen zu einem Sachverhalt doch erst, wenn man mit ihm in Berührung kommt.

Das waren also die Fakten. Ab hier kommen wir zu meiner persönlichen Meinung, die sich auf ein wenig Internetrecherche und eigene Gedanken stützt. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, warum – abgesehen von der angesprochenen eventuellen symbolischen Bedeutung – gerade in erotisch geprägten und ästhetischen Werken wie BL-Manga das Vergewaltigungsmotiv eine so zentrale Rolle einnimmt. Vielleicht, weil die ‚hübschen‘ Zeichnungen und romantischen und erotischen Geschichten der Tat die eigentliche Schwere nehmen. Dies hat natürlich sowohl eine positive als auch eine negative Seite. Einerseits wird die Vergewaltigung durch ein schönes Artwork und eine anrührende Story verhüllt und verharmlost, weil Auge und Gehirn nebenbei zusätzlich ganz andere Dinge verarbeiten als nur ein Verbrechen, nämlich visuelle Eindrücke und narrative sowie erotische Reize, die gerade bei BL-Manga ganz klar im Fokus stehen und andere Aspekte der Wahrnehmung verdrängen und überlagern. Andererseits fällt die Beschäftigung mit der Tat leichter oder wirkt vielleicht sogar eindrücklicher auf den Leser als nur im geschriebenen Wort, weil wir Dinge, die wir sehen, sehr viel intensiver empfinden als jene, von denen wir nur lesen oder hören. Aber gerade der letzte Punkt trifft eigentlich ausschließlich auf Manga zu, die eine Vergewaltigung nicht als Ausgangspunkt, sondern als zentrales Handlungselement nutzen und die Tat auch werkimmanent klar als traumatisches Erlebnis kennzeichnen. Für die meisten BL-Werke fällt dieses Kriterium daher raus. Jetzt kann man sich natürlich die Frage stellen: Fällt den Mangaka einfach keine bessere Lösung ein, um die beiden Protagonisten gemeinsam zur Sache kommen zu lassen und die Erwartungen des Lesepublikums möglichst schnell zu erfüllen?

Ich glaube, dass in BL-Manga so viele Figuren sexuellen Missbrauch erdulden müssen, hängt mit dem Verständnis von Liebe zusammen, dass man in der japanischen Kultur und in der Psychologie von Sigmund Freud findet (Achtung, ab hier stürze ich mich in Vermutungen). „Aha, wie soll das denn bitte zusammen gehören?“, denkt ihr jetzt wahrscheinlich. Aber bitte lauft nicht davon, ich will versuchen es zu erklären. Freud definiert in seiner Triebtheorie den Lebens- oder Erhaltungstrieb beziehungsweise die sexuelle Lust (Eros) und den Todestrieb beziehungsweise den Drang nach Zerstörung und Destruktion (Thanatos). Diese beiden Triebe sind nach Freud in der Psyche eines jeden Menschen verankert und wirken in jeder unserer Handlungen beständig gegeneinander. Vielleicht kann man dieses Konzept in abstrakter und etwas modellierter Art auf die Figuren in vielen BL-Manga übertragen. Im Protagonisten, der die Vergewaltigung ausführt, verbinden sich die zwei einander entgegengesetzten Seiten von Liebe: das (positiv besetzte) sexuelle Verlangen (Eros) als Ausdruck der Liebe zu einem Menschen mit dem gleichzeitigen Drang danach, diesen vollständig zu besitzen, zu vereinnahmen, zu zerstören (Thanatos), wenn nötig. Dieser Widerspruch löst sich in der Vergewaltigung auf, den sie erlaubt aus der subjektiven Sicht des Täters die Befriedigung beider Triebe: die Stillung des sexuellen Verlangens und damit den Ausdruck der eigenen Liebe bei gleichzeitigem Besitzen des Opfers. Mir ist schon öfter aufgefallen, dass in japanischen Manga ein sehr extremes Bild davon zu existieren scheint, wie eine ideale Liebesbeziehung zu funktionieren hat. Was bei uns Grund genug wäre, sich sofort von seinem Partner zu trennen, nämlich extreme Eifersucht oder das starke Verlangen beziehungsweise der Wunsch nach dem Gefühl, den Partner vollkommen zu besitzen und zu kontrollieren, gilt in vielen BL-Manga als der ultimative Liebesbeweis. Misaki wird in Junjou Romantica beispielsweise förmlich von Akihiko gestalkt und ist dabei nur eines von unzähligen Uke-Stalking-Opfern (die allesamt nicht wirklich etwas dagegen einzuwenden haben). Das angesprochene Phänomen zieht sich durch auffalend viele BL-Werke. Wie oft flüstert der Seme dem Uke nach einer wilden Nacht leise die Worte ins Ohr: „Ich will, dass du ganz alleine mir gehörst.“ Wo sich unsereins jedes Mal denkt „Vorsicht, Psychpathenalarm!“, scheint man in Japan in Bezug auf diesen Aspekt ein eher pragmatisches Verständnis zu pflegen. Ich kenne mich mit der Kultur Japans leider nicht gut genug aus, um hier Rückschlüsse ziehen zu können, aber vielleicht gibt es irgendwo in der wissenschaftlichen Literatur Ansätze, die dieses extreme Bild von Liebe erklären.

Man könnte also sagen, dass sich im Vergewaltigungsmotiv in BL-Manga sowohl symbolische, psychologische als auch eventuelle kulturelle Konzepte verbinden. Und damit wären wir beim Punkt der künstlerischen Freiheit angelangt. Denn BL-Werke sind nicht zuletzt ein Ort, an dem sich Fantasien ungestört entfalten können. Es kommt in Film, Literatur und Kunst bekanntlich nicht selten vor, dass gerade sexuell aufgeladene Geschichten oder Werke einen sehr düsteren Unterton annehmen und den sexuellen Akt mit Gewaltdarstellungen verbinden. Irgendwie scheint gerade der menschliche Sexualtrieb vielen Künstlern ein Quell der Inspiration zu sein, wenn es darum geht, die Abgründe der menschlichen Psyche zu ergründen und Tabus zu brechen. Vielleicht ist es gerade die Vorstellung von einer Liebe, die so stark ist, dass sie zerstörerisch wird, die so viele Leser an diesen BL-Werken fasziniert. Oder die ungewöhnliche und sehr reizvolle Perspektive, dass es endlich einmal ein Mann ist, der die passive und unterwürfige Rolle einnimmt, wo es doch sonst in allen Kulturen die Frauen waren, die lange unterdrückt und an Haus und Hof gebunden wurden. Insofern können BL-Manga in dieser Hinsicht vielleicht auch einen feministischen Befreiungsschlag bedeuten, denn hier sind es die zumeist weiblichen Mangaka, die Geschlechterstereotypen auf männliche Protagonisten übertragen und damit die Herrscherinnen über ein kleines maskulines Mikrouniversum sind. Um vielleicht eine sehr steile These zu formulieren: Die Unterdrückung, die Frauen in der Gesellschaft lange erdulden mussten, wird in BL-Manga auf den Akt der Vergewaltigung projiziert und in der Schändung des (oft mit weiblichen Zügen ausgestatteten) Uke personifiziert. Wahrscheinlich könnte ich noch 100 andere Gründe anführen, warum BL-Manga, in denen das Vergewaltigungsmotiv vorkommt, nicht pauschal verurteilt werden sollten, aber der Beitrag ist eigentlich jetzt schon viel zu lang. 

Als persönliches Fazit kann ich daher diese Schlussfolgerung ziehen: Es wird in BL-Manga nicht unbedingt die Vergewaltigung legitimiert, sondern mit ihr vor allem ein Gefühl extrem starken Verlangens symbolisiert, welches sich zum Teil aus psychologischen und eventuell kulturellen Aspekten speist. Nichtsdestotrotz befürworte ich die kritische Auseinandersetzung mit dieser Thematik eindeutig und finde es auch vertretbar, wenn einige Werke für minderjährige Leser nicht so leicht zugänglich sind. Übrigens dürften gerade Japanerinnern sehr sensibel auf das Thema Vergewaltigung reagieren, denn in Japan tobt seit 2017 eine wüste Debatte über den gesellschaftlichen Umgang mit Frauen, die Opfer von Vergewaltigungen geworden sind. In Japan gibt es leider ein zum Teil noch sehr starres Geschlechterrollenbild und die japanische Gesellschaft wird fast ausschließlich von Männern dominiert. Privates darf unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit gelangen. Dementsprechend werden Vergewaltigungen totgeschwiegen und die betroffenen Frauen müssen, wenn sie diese öffentlich machen, mit dem Verlust ihres gesellschaftlichen Status rechnen. Selbst rechtlich werden den Opfern hohe Hürden in den Weg gelegt. In der Regel benötigt es aussagekräftige Beweise und eine sehr starke Psyche, bevor die japanische Polizei überhaupt eine Anzeige zu Protokoll nimmt. Die männlichen Täter kommen meistens ohne Sanktionen davon. Dies ist vielleicht auch der Grund für den erstaunlichen Umstand, dass in BL-Werken, in denen eine Vergewaltigung tatsächlich einmal als Straftat verarbeitet ist, diese vom Opfer niemals polizeilich angezeigt wird. Ihr könnt euch über die Hintergründe informieren, wenn ihr den Hashtag #MeToo Japan googelt. Da sexuelle Belästigung für Frauen in Japan durchaus zum Alltag gehört und teilweise als ganz normal wahrgenommen wird, werden auf das Für und Wieder bezüglich der Darstellung von für uns extremen sexuellen Akten vielleicht nicht so viele Gedanken verschwendet. Eigentlich ist es traurig, wenn sexuelle Belästigung in einer Kultur als so selbstverständlich verstanden wird, dass sie sogar Eingang in die Popkultur findet. Aber die Geschlechterrollenbilder in Japan und ihre Tradierung in BL-Manga sind ein eigenes Kapitel, dem ich mich irgendwann in der Zukunft auch noch einmal widmen werde.

Jaa mata ne, eure Amaya


4 Kommentare

deine.nachbarin · 17. April 2019 um 11:25

Hey,

sehr schöner Blogbeitrag, du hast dieses Thema auf eine sehr interessante Art und Weise beleuchtet 🙂 Man merkt, dass dieses Thema so komplex und umfangreich ist, dass man theoretisch ein Buch darüber schreiben könnte, und man hätte dennoch das Gefühl, es ist immer noch nicht genug.^^

Da ich finde, dass du schon sehr viele wichtige Aspekte genannt hast, versuche ich nochmal auf einige psychologische Aspekte einzugehen und mich angesichts des komplexen Themas so kurz wie möglich zu fassen.

Die Triebtheorie von Sigmund Freund scheint tatsächlich eine plausible Erklärung für das Verhalten des Täters zu sein. Warum dieses Verhalten aber in BL Manga oft als der absolute Liebesbeweis dargestellt wird, ist tatsächlich schwer zu sagen, vor allem, da ich in diesem Zusammenhang ebenfalls zu wenig über die japanische Kultur weiß und mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen möchte^^

Daher versuche ich nun, mich diesem Thema von einer anderen Perspektive aus zu nähern, nämlich aus der Perspektiver des Lesers.
Rein logisch betrachtet, würden ja nicht so viele Vergewaltigungs-Mangas existieren, wenn es nicht genug Leser gäbe, die dies mögen.
Also müsste man sich zunächst fragen, warum so viele Leser von Vergewaltigungen fasziniert sind, bei denen das Opfer Lust während der Vergewaltigung empfindet und sich auch noch in den Täter verliebt.
Daher habe ich mir eine mögliche Theorie zusammengereimt, die unabhängig von der kulturellen Prägung ist.

Ich behaupte jetzt einfach mal, dass sich alle/fast alle Leser unbewusst mit einem der Charaktere in Mangas identifizieren. Weiterhin gehe ich davon aus, dass die Tatsache, dass man von etwas fasziniert ist (in diesem Fall Vergewaltigungen), häufig mit der eigenen Persönlichkeit und/oder mit eigenen Erlebnissen zu tun hat. An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass ich keinen Leser als krankhaft oder gestört darstellen möchte. Denn jeder Mensch hat bewusst oder unbewusst bestimmte Ängste, Befürchtungen, Erwartungen oder hat bestimmte Erfahrungen in seinem Leben gemacht. Ebenfalls denke ich, dass jeder Mensch zu einem gewissen Grad bestimmte Gefühle kompensiert. Dabei ist es egal, ob die Kompensation durch das Konsumieren von Kunst (wie eben auch Manga), Nahrung oder Alkohol oder durch das Betreiben von Sport etc erfolgt.

So, wie stelle ich mir die Kompensation nun vor? Ich versuche mal ein Beispiel zu geben: Wir nehmen einfach mal an, der Leser ist ein Mensch, der, wie viele andere Menschen auch, (bewusst oder unbewusst) Angst vor Ablehnung hat. In dem Manga wird nun eine Vergewaltigung gezeigt. Das Unterbewusstsein des Lesers registriert, dass das Opfer – zumindest in dem Moment der Vergewaltigung – NICHT abgelehnt wird. Dies könnte eventuell dazu führen, dass der Leser sich unbewusst mit dem Opfer identifiziert und die Vergewaltigung als faszinierend/positiv empfindet (selbstverständlich ohne den Wunsch zu haben, in der Realität tatsächlich vergewaltigt zu werden!).

Ich denke, dass dieser Ansatz vielleicht auch erklären könnte, wieso sich in BL Manga das Opfer häufig in den Täter verliebt und somit auch eine Vergewaltigung als Liebesbeweis anerkennt: Auch hier werden bestimmte Gefühle kompensiert. Im Grunde genommen werden in Mangas Gefühle gezeigt, die auch bei realen Menschen existieren. Der Unterschied besteht meiner Meinung nach lediglich darin, dass in der Kunst Gefühle anscheinend generell in viel extremerer Form gezeigt werden und somit auch in extremeren Handlungen enden können.

Zu deiner These, dass Vergewaltigungen in BL Manga auch ein feministischer Befreiungsschlag sein könnten: Diesen Aspekt habe ich vorher nie in Erwägung gezogen, was jedoch daran liegen wird, dass ich keinen einzigen Manga kenne, in denen ein Mann von einer FRAU vergewaltigt wird. Denn sonst ist doch trotzdem der Mann wieder der Vergewaltiger, nur dass er einen Mann anstelle einer Frau vergewaltigt. Aber auch dieses Thema müsste man komplett auseinandernehmen, um eventuell zu einer Antwort zu gelangen.

An dieser Stelle möchte ich noch erwähnen, dass ich definitiv zu der Fraktion gehöre, die der Meinung ist, dass in der Kunst alles erlaubt ist. Die Frage, inwiefern Jugendliche geschützt werden müssen, konnte ich bisher für mich nicht zu 100 % beantworten. Im Allgemeinen würde ich es jedoch befürworten, wenn Werke wie „Junjou Romantica“ und „Verliebter Tyrann“ erst ab 18 freigegeben werden. Bestimmte Mangas jedoch komplett zu verbieten, wie es ja jetzt schon praktiziert wird, halte ich jedoch für übertrieben, denn es ist völlig unangemessen, selbst erwachsene Menschen bevormunden zu wollen. Aber auch das ist wieder ein ganz eigenes Thema für sich^^

Liebe Grüße
„deine Nachbarin“ 😉

    Amaya · 27. April 2019 um 9:49

    Hey,

    wow, vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar! Es ist schön zu sehen, dass sich auch andere Mangaleserinnen intensiver mit diesem Thema beschäftigen. Du hast da ein paar weitere, sehr interessante Aspekte angesprochen, zu denen ich kurz etwas schreiben will, aber wirklich nur in knapper Form, sonst werden unsere Kommentare länger als der Beitrag und kein Mensch liest das mehr *zwinker*.

    Deine These, dass diese Manga z.T. psychologisch auch etwas kompensieren, kann ich so weit unterstützen. Psychologische Faktoren und unterbewusste Motive spielen sicherlich eine zentrale Rolle, sowohl werkimmanent als auch auf Seiten der Leserschaft. Spätestens seit dem 50 Shades of Grey-Phänomen wissen wir ja alle, dass viele Menschen durchaus von der Darstellung erotischer Fantasien angesprochen werden, die auch etwas extremer sein können (hier nehme ich mich selbst natürlich nicht aus). Ich denke, die jeweiligen Anreize, warum wir uns so etwas ansehen, sind jedoch für jede Person sehr individuell und daher tue ich mich etwas schwer, hierzu eine verallgemeinernde Aussage zu treffen. Die unbewusste Befriedigung eines unspezifischen Mangelgefühls oder Kompensation von Ängsten, wie du es nennst, könnte aber ein zentraler psychologischer Aspekt sein. Vor allem trifft er sicher auf viele Figuren solcher Manga zu, gilt also eher werkintern. Die Angst vor Ablehnung ist z.B. ein zentrales Motiv in „Das Spiel von Katz und Maus“.

    Die Betrachtung des Vergewaltigungsmotivs in BL-Manga als quasi-feministischen Befreiungsschlag ist natürlich nur aus werkexterner Perspektive möglich und – zugegeben – etwas gewagt. Wie du richtig schreibst, ergibt sie keinen Sinn, wenn man nur die Figuren berücksichtigt, da hier erneut der Mann die Vergewaltigung ausübt und sich zudem auch noch an einem anderen Mann vergeht, der mit weiblichen Attributen besetzt ist (Körperbau, Verhalten). Die klassischen Geschlechterrollen werden damit unverändert eingehalten, wenn man vom Wechsel des Geschlechts beim Opfer absieht. Wobei dieser Wechsel nicht unbedeutend ist. Vielleicht habe ich mich da auch nicht deutlich genug ausgedrückt. Es geht vielmehr um den Umstand, dass vielleicht auch auf Seiten der weiblichen Mangaka eine Kompensation stattfindet, nämlich die der weiblichen Unterdrückung in der Gesellschaft. Als Autorinnen solcher Manga ‚beherrschen‘ sie die männlichen Charaktere und das Universum ihrer Werke und können Macht auf das männliche Geschlecht und seine Handlungen ausüben bzw. nach ihren Wünschen formen. Die Tatsache, dass der Uke häufig trotzdem mit Eigenschaften besetzt ist, die wir als eher weiblich wahrnehmen, zeigt jedoch vielleicht auch, wie tief verwurzelt diese über Jahrtausende tradierten Geschlechterstereotypen in unserem Unterbewusstsein sind.

    Es gibt übrigens ein paar wenige Manhwa, in denen der männliche Protagonist von einer Frau vergewaltigt wird, wenn man so will. Wenn ich irgendwann einen konkreten Titelnamen auftreiben kann, ergänze ich ihn hier. Leider weiß ich auch nicht, ob es sich dabei überwiegend um weibliche oder männliche Mangaka handelt. Im Wesentlichen geht es inhaltlich darum, dass die männliche Hauptfigur durch Magie eine so enorme sexuelle Ausstrahlung erlangt, dass die Frauen sich ihr reihenweise aufdrängen. Wie man sich allerdings schon denken kann, sind diese Manhwa im Comedy-Genre zu verorten und nicht ganz ernst zu nehmen. Und auf den ersten Blick sieht das auch eher nach einer männlichen Fantasie aus *zwinker*. Aber das aufzugreifen, wäre wieder einen eigenen Beitrag wert.

    Liebe Grüße
    Amaya

deine.nachbarin · 2. Mai 2019 um 12:45

Hey,

ich gehe jetzt auch nur noch ganz kurz auf deinen Kommentar ein, bevor die Diskussion wirklich so lang wird, dass es niemand mehr lesen möchte ^^

In der Zwischenzeit hab ich nun auch mal nach Mangas/Manhwa gesucht, in denen ein Mann von einer Frau vergewaltigt wird. Tatsächlich habe ich keinen gefunden, der nicht dem Comedy-Genre angehört. Aber falls du mal einen im „ernsteren“ Stil finden solltest, wäre ich an einen kurzen Hinweis darauf sehr interessiert. 🙂

Im Endeffekt kann man tatsächlich keine Verallgemeinerungen treffen, aber durch die Komplexität des Themas macht es echt Spaß, zu versuchen, einigermaßen plausible Erklärungsansätze zu finden. Eigentlich müsste man mal einige Kulturwissenschaftler, Philosophen und Psychologen zu diesem Thema befragen – aber leider ist das ja nicht so einfach möglich 😉

Dass auf Seiten der Mangaka ebenfalls etwas kompensiert werden könnte, ist aber auf jeden Fall auch eine plausible Erklärung. Schade, dass man nicht einfach mal ein paar (weibliche) Mangaka direkt fragen kann, aus welchen Gründen sie den Uke mit eher „weiblich“ wirkenden Eigenschaften ausstatten. Es wäre auch sehr interessant zu wissen, ob die Antworten dann eher einheitlich oder doch sehr verschieden ausfallen würden und in welchem Ausmaß kulturellere Hintergründe mit reinspielen.

Liebe Grüße
„deine Nachbarin“

    Amaya · 2. Mai 2019 um 19:47

    Hey ein letztes Mal 😉,

    da bringst du es auf den Punkt. Eine Interview-Reihe zu diesem Thema wäre sicherlich unfassbar spannend (leider liegt das außerhalb meiner Möglichkeiten).

    Es gibt aber eine interessant klingende wissenschaftliche Publikation zum Thema BL-Manga im Allgemeinen: „Nutzen und Gratifikation bei Boys‘ Love Manga: Fujoshi oder verdorbene Mädchen in Japan und Deutschland (Schriften zur Medienwissenschaft)“. Der Band kostet leider fast 80 €, sonst hätte ich mir den schon längst einmal ‚unter den Nagel gerissen‘.

    Liebe Grüße
    Amaya

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